Japan hat ein Talent dafür, Momente zu schaffen, in denen die Zeit stillzustehen scheint. In denen die Geräusche leiser werden, die Luft klarer und die Farben intensiver. Heute war einer dieser Tage – und Takasaki, die stille Stadt in der Präfektur Gunma, war seine Bühne.
Schon beim Verlassen des Bahnhofs umfing mich eine Klarheit, die selten ist. Der Himmel war in ein tiefes, fast überirdisches Blau getaucht, und in der Ferne erhoben sich die Berge, gekrönt von Schneekappen, die in goldenem Sonnenlicht glühten. Die Architektur der Stadt mischte Modernes mit Traditionellem, und über allem lag eine Reinheit, als würde der Ort jede Nuance seiner Farben mit Bedacht wählen. Mein Blick verlor sich immer wieder in der Ferne, dort ragten in jeder Himmelrichtung die Berge empor. Nebelschleier krochen wie atmende Wesen über die Hänge, lösten sich auf und formten sich neu, als würde die Landschaft selbst leben.




Ich hatte kein festes Ziel. Während viele direkt zur imposanten Kannon Statue Takasaki Byakue Daikannon aufbrachen, die hoch über Takasaki wacht, ließ ich mich treiben. Die Straßen waren makellos, als hätte jemand mit Bedacht jeden einzelnen Stein platziert. Die Häuser, mit dunklem Holz und Schiebetüren, schmiegten sich in die Landschaft, und kleine Gärten erzählten von Sorgfalt und Tradition. In Japan gibt es eine gewisse Schönheit, die sich nicht in großen Monumenten oder spektakulären Orten zeigt, sondern in der Art und Weise, wie sich alles in eine stimmige Ordnung fügt – als wäre jede noch so kleine Ecke penibel komponiert.
Während ich durch die Stadt wanderte, wurde mir bewusst, dass dieser Spaziergang für einen Außenstehenden vielleicht belanglos wirken könnte. Ein paar Straßen entlanggehen, vielleicht einen Schrein besuchen – nichts, worüber man lange sprechen müsste. Und doch war es für mich so viel mehr.
Japan hat eine Art, das Alltägliche in etwas Besonderes zu verwandeln. Es ist nicht nur eine Stadt, durch die ich laufe – es ist eine Welt, die sich für mich öffnet. Jede Straße, jeder Moment fühlt sich an, als würde er eine Geschichte erzählen, als wäre ich nicht nur ein Besucher, sondern Teil eines größeren Bildes. Manchmal glaube ich, es liegt an den Farben, die dieses Land malt – an den sanften Übergängen zwischen Licht und Schatten, an der Art, wie die Sonne über die Dächer gleitet, wie sich die Laternen in den Fenstern spiegeln.








Vielleicht liebe ich Japan genau deshalb so sehr. Weil ich nicht gezwungen bin, nach dem Außergewöhnlichen zu suchen. Weil selbst ein unscheinbarer Weg, eine ruhige Straße, eine dampfende Schüssel Reis mich mit diesem unbeschreiblichen Gefühl füllen kann – mit dieser Wärme, dieser tiefen Zufriedenheit, diesem stillen Glück, das mich einfach nur lächeln lässt.
Mein Weg führte mich schließlich zu einem alten Anwesen, dem Susano-o Schrein, verborgen zwischen hohen, knorrigen Bäumen, in denen sich der Wind verfing. Die roten Torii ragten leuchtend gegen den blauen Himmel empor, als trennten sie nicht nur die Welt des Irdischen von dem des Göttlichen, sondern auch diesen Moment vom Unbekannten. Mit einem tiefen Atemzug trat ich hindurch, spürte, wie die Atmosphäre sich veränderte – als würde mit jedem Schritt eine unsichtbare Schicht des Alltags von mir abfallen.
Ich reinigte meine Hände mit eiskaltem Quellwasser, ließ eine Münze in den Opferschrein gleiten, verneigte mich, klatschte zweimal in die Hände und schloss die Augen. Die Stille war nicht leer – sie war erfüllt vom sanften Läuten einer Glocke. Ich zog an dem Seil, gab meinen Wunsch frei und wurde umhüllt vom fernen Rauschen der Blätter, von der Kühle der einbrechenden Nacht. Ein Moment der Einkehr, der mich tiefer atmen ließ.





Doch mit der Schönheit kam auch die Kälte. Der Wind, der mich auf dem Weg hierher noch sanft auf der Haut gestreichelt hatte, wurde schneidend, kroch mir durch den Mantel, biss mir in die Wangen. Also folgte ich meiner Sehnsucht nach Wärme. Ein kleines Lokal lachte mich an. Innen empfing mich eine Welt aus Dampf und Stimmen. Die Wärme war nicht nur körperlich spürbar – sie lag in der Art, wie der Koch hinter dem Tresen mit ruhiger Hand Schalen füllte, in dem leisen Murmeln der Gäste, im Klang von Essstäbchen, die gegen Keramik klopften. Ich bestellte Schweinefleisch mit Reis, und als ich den ersten Bissen nahm, breitete sich eine tiefe Behaglichkeit in mir aus.
Manchmal sind es genau diese Momente, die sich ins Herz brennen. Nicht, weil sie laut und groß sind, sondern weil sie vollkommen sind, so wie sie sind.
Als ich nach draußen trat, hatte sich die Stadt bereits verwandelt. Die Sonne war bereits hinter den Bergen verschwunden, und Takasaki lag in einem sanften, rosafarbenen Licht. Die gläsernen Fassaden der Gebäude fingen die letzten Strahlen ein, spiegelten sie, als wollten sie den Tag noch einen Moment länger festhalten.
Und dann – als hätte jemand mit einem einzigen Fingerschnippen das Licht gelöscht – wurde es Nacht. Doch Takasaki erstrahlte aufs Neue, diesmal in einem anderen Glanz: Tausende von Fenstern, leuchtend wie Sterne, bildeten ein Netz aus Licht, das sich über die ganze Stadt spannte. Auf meinem Weg zurück zum Bahnhof, hoch über den Straßen auf einem erhöhten Pfad, rauschten die Autos tief unter mir vorbei – kleine, bewegte Lichter, die wie ein endloser Fluss durch die Straßen glitten. Ich blieb einen Moment stehen, ließ meinen Blick über das Lichtermeer schweifen, spürte die Stille in mir und das Leben um mich herum.




Nun sitze ich im Zug, während die Lichter von Takasaki langsam hinter mir verschwinden. Die Dunkelheit vor dem Fenster ist tief, aber sie fühlt sich nicht leer an. In meinem Kopf hallt der Tag nach – das Blau des Himmels, das Flüstern der Bäume, das leise Läuten der Glocken am Schrein.
Als der Zug schließlich in meinem Zielbahnhof hält und sich die Türen mit einem sanften Zischen öffnen, weht ein eisiger Wind durch den Wagen. Er streicht über meine Haut, fährt mir durch die Haare, umfängt mich mit seiner frostigen Umarmung. Und für einen Moment ist es, als stünde ich wieder am Fuß der Berge, umgeben von Stille, von Klarheit, von dieser kühlen Reinheit, die mich den ganzen Tag begleitet hat.
Ein weiterer Tag in Japan, der sich anfühlt wie eine kleine Ewigkeit.
Ich glaube, niemand kann so poetisch über Japan schreiben wie du. Und das meine ich gar nicht abwertend. In jedem Wort schwingt deine Liebe für das Land der aufgehenden Sonne mit, deine Begeisterung ist schier ansteckend. Für mich ist es wahrscheinlich noch etwas nachvollziehbarer, weil ich mich bei meinem ersten Besuch im letzten Jahr ebenso Hals über Kopf verliebt habe (und das ist mir bisher nur einmal passiert ;-)).
Wunderschöne Fotos, die den Text anschaulich untermalen.
Wie könnte ich anders als durch die Sprache der Poesie von meinen Erfahrungen erzählen, während Japan selbst mich in sein eigenes Bild einfügt, mit zärtlicher Liebe umrahmt und jeden Tag mit sanften Pastellfarben durch mein Leben malt?