Die alte Dame in Tōkyō
Die alte Dame in Tōkyō

Die alte Dame in Tōkyō

Lesedauer 6 Minuten

Seit ich meinen Flug nach Japan gebucht und die Wohnungen in Tōkyō gemietet habe, fühlt sich mein aktuelles Leben irgendwie plastisch an. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass es nun Wirklichkeit geworden ist und ich einige Zeit in Japan leben werde. Seit über 15 Jahren ist Japan in meinen Gedanken allgegenwärtig, und fast jede Sekunde dreht sich um dieses Land. Es ist, als würde mich mein Herz förmlich dorthin ziehen. Natürlich dominiert Japan nicht jede Sekunde meines Lebens, aber doch fast jede zweite. Über die Jahre ist diese Sehnsucht immer intensiver geworden, und ich tauche selbst hier in Deutschland immer mehr in die japanische Kultur ein: Ich koche japanisch (und koreanisch), habe meine Wohnung teils im japanischen Stil eingerichtet – mein Fernweh wurde einfach von Jahr zu Jahr größer. Zwar ist es mir gelungen, in den letzten zehn Jahren zweimal für mehrere Wochen Urlaub in Japan zu machen, aber mein Herz wollte mehr.

Zwei oder drei Wochen in Japan sind wundervoll, keine Frage – aber nach drei Wochen ist man gerade eben erst richtig „angekommen“. Die unzähligen Eindrücke, Farben und Gerüche sind überwältigend, und überall wuseln Menschen, schwirren Stimmen und Töne. Nachts ist Japan völlig anders als am Tag: Die Menschen auf den Straßen sind andere, aber was bleibt, sind die Millionen Lichter und Leuchtreklamen, die die Nacht prägen. Die orange-gelb beleuchteten Fenster der Ramen-Läden sind beschlagen vom heißen Dampf der Nudeln, und die Getränkeautomaten fristen ein liebevolles Dasein – beliebt bei allen, immer gefüllt, und mit ihren leisen Piepstönen, die sie nach dem Bezahlen von sich geben. Diese Geräusche lösen bei mir inzwischen schon fast automatisch den Drang aus, mir auch ein Getränk zu kaufen.

In Tōkyō gibt es kaum dunkle Ecken. Egal, in welche Straße man abbiegt, es gibt immer etwas Neues, vor allem Schönes, zu entdecken. Ich habe eine besondere Liebe zum „Straßenbild“ Japans. Die Sauberkeit fasziniert mich, die liebevoll drapierten Blumen und Dekorationen an jedem Eingang und in fast jedem Fenster, die absolute Stille der Nacht, die nur durch das Zirpen der Zikaden unterbrochen wird. Vielleicht schafft dieses allesübertönende Geräusch der Zikaden auch erst diese besondere Ruhe der Nacht. Und obwohl ich eigentlich ein Mensch der Worte bin, fehlen mir manchmal die richtigen Worte, um dieses „Straßenbild“ zu beschreiben, das mich magisch in seinen Bann zieht. Wenn man es auf das Wesentliche herunterbricht – die Straße, etwas Grün, Gehwege und Absperrungen, hier und da eine Straßenlaterne –, ist es eigentlich gar nicht so verschieden im Vergleich zu Deutschland. Und doch fühle ich mich wie Alice im Wunderland. Genau das bewirkt schon eine „normale“ Straße in Japan bei mir – du kannst dir also vorstellen, wie viel stärker der Rest auf mich wirkt. Es ist, als sähe ich in jedem Quadratzentimeter Japans eine kleine Wunderwelt. Und genau das tue ich auch.

Kulturschock!

Ein Kulturschock? Zumindest bei mir war es nie ein Kulturschock, nach Japan zu kommen. Im Gegenteil, ich erlebte den Kulturschock immer erst, wenn ich wieder in Deutschland gelandet war. Ab meiner ersten Landung in Haneda fühlte sich Japan sofort an wie ein Nach-Hause-Kommen. Selbst bei meiner allerersten Reise wirkte das Land nicht fremd auf mich. Die japanischen Gepflogenheiten – das ständige Verbeugen, die ungeschriebenen Regeln, etwa, auf welcher Seite man auf einer Rolltreppe steht – das alles war für mich einfach… normal, menschlich und irgendwie logisch. Der respektvolle Umgang miteinander, das Achten auf die Bedürfnisse anderer, das Miteinander – all das fühlt sich für mich einfach selbstverständlich an.

Mit jedem Tag, den ich in Japan verbrachte, verbesserte sich meine Sprache, oder zumindest die Aussprache meiner doch noch dürftigen Japanischkenntnisse. Und ja, auf diese bin ich trotzdem ziemlich stolz. In dieser Zeit bin ich vielen Menschen begegnet – beim Einkaufen, beim Sightseeing und natürlich bei meiner Lieblingsbeschäftigung: einfach zu Fuß durch Tōkyō zu ziehen. Das Leben auf Tōkyōs Straßen könnte morgens und abends kaum unterschiedlicher sein. Abends strömen Menschen in die Straßen und füllen die betonierten Adern der Stadt, während Tōkyō frühmorgens zwischen fünf und sieben Uhr fast schläft. In diesen Stunden begegnet man vielleicht einer Handvoll Menschen.

Eine besondere Begegnung

So kam es, dass ich im September 2024, gegen halb sechs Uhr morgens, einer älteren Dame begegnete, die direkt einem Ghibli-Anime entsprungen sein musste. Mit einem Strohbesen, aus demselben Material wie ihr Hut, fegte sie in gebückter Haltung den Bereich unter einer Brücke. Dort lag ein kleiner Gehweg zwischen zwei etwa sechs Meter breiten Zebrastreifen. Es war weder ihr Grundstück noch ihre Aufgabe – auch in Japan gibt es natürlich eine städtische Reinigung. Aber genau so sind die Japaner eben.

Gemütlich überquerte ich den ersten Zebrastreifen, bis ich etwa zwei Meter von der Dame entfernt war. Ich verbeugte mich leicht und grüßte sie mit einem fröhlichen „おはようございます“. Sie schaute zu mir auf, erwiderte meinen Gruß mit einem leichten Lächeln und fügte auf Japanisch noch ein paar Worte hinzu, die ich leider nicht verstand. Entschuldigend sagte ich auf Japanisch, dass ich sie leider nicht verstanden hätte, und fügte hinzu, dass ich die Sprache noch nicht sehr gut beherrsche. Wir entschuldigten uns gegenseitig mehrfach und verbeugten uns dabei. Später fand ich heraus, dass sie mir einfach einen schönen Morgen gewünscht hatte. Dieser Moment blieb mir im Gedächtnis: die alte Dame, die in ihrer typisch ländlichen, blassgrauen Kleidung und mit Strohhut den Gehweg fegte, ihr faltiges, aber äußerst freundliches Lächeln. Zwei Menschen – die in dieser frühen Stunde allein unter der Brücke in Ikebukuro aufeinander trafen und sich vorher nie gesehen hatten – schufen gemeinsam einen magischen Moment, in dem nichts weiter geschah, als dass sie sich grüßten.

Der Entschluss, nach Japan zu gehen

Genau solche Momente ziehen mich magisch an. Vielleicht bin ich nach ihnen sogar süchtig geworden. Ich glaube, es war auch genau dieser Augenblick, der mir klarmachte, dass ich mein ganzes Leben überdenken muss. Natürlich liebe ich meine Wohnung in Deutschland, meine Familie und meine Freunde. Aber ich möchte endlich etwas erleben. Ich bin zwar erst 35 Jahre jung, doch niemand kann wissen, wann und warum das Leben endet. Jeden Tag nur von der Sehnsucht zu träumen, zerreißt mich allmählich. Ich will das Land meiner Träume spüren, erfahren, hören, riechen, schmecken und – vor allem – erleben.

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