Japan – das Land im Pazifik, das den meisten wohl nur als skurril, übertrieben höflich und diszipliniert bekannt ist, meistens – leider – nur aus den Medien. Dazu kommen all die verrückten Dinge, Mangas und Animes, die von hier aus in die Welt strahlen. Wer sie liebt, ist oft süchtig danach; andere können damit gar nichts anfangen. Ich gehöre natürlich zu den Süchtigen – nach allem, was aus diesem Land kommt. Mein Auto ist japanisch, mein Essen, wann immer möglich, ebenfalls, und vieles in meinem Leben dreht sich nur um eines: Nihon.
Japan – da denkt man natürlich auch an Erdbeben, Tsunamis und Taifune, was durchaus sinnvoll ist, denn diese Naturgewalten sind hier (wie ich später erfahren sollte) tatsächlich sehr präsent.
Bis zu meinem 29. Lebensjahr war es ein Traum, dieses Land endlich zu bereisen. Nun sollte es endlich so weit sein. Nach monatelanger Vorbereitung und Planung startete ich meine Traumreise – vom Frankfurter Flughafen aus. 11.500 km durch die Luft bis nach Haneda. Für meinen ersten Flug, und das mit Flugangst (dachte ich jedenfalls), hatte ich mir da natürlich genau das Richtige ausgesucht. Aber mir war klar: Ich muss nach Japan. Würde ich zuerst in ein anderes Land fliegen und meine Flugangst sich dabei bestätigen, dann könnte Japan ein unerfüllter Wunsch bleiben. Also rein in die ANA-Maschine und los!
Der Start war atemberaubend. Für Autoliebhaber, speziell aus der JDM-Szene, ist das Gefühl vergleichbar mit einem hochgezüchteten GTR-35, weit jenseits der straßentauglichen PS. Gigantisch, wie sich dieser Koloss erhebt; der Druck in den Ohren, das Knacken und Knarzen, der Körper, der in den Sitz gepresst wird. Nur Momente später neigt sich der stählerne Vogel horizontal und zeigt eine völlig neue Welt durch das Fenster: Eine surreal erscheinende Höhe. Die erste Aufregung flaut ab, nach zwei, drei Stunden wird es fast langweilig. Bis der Sinkflug beginnt, und es sich anfühlt, als stürze das Flugzeug. Wie eine Achterbahn – das Kribbeln im Bauch, das Gefühl der Schwerelosigkeit.
Turbulenzen während des Fluges sind tatsächlich nicht ohne, aber kein Grund zur Panik. Ein bisschen wie U-Bahn fahren – nur wesentlich schneller und auf 10.000 Metern Höhe, während die Flügel bedrohlich auf und ab wippen und das Flugzeug klappert. Und die Blicke derer, die noch nervöser sind als man selbst und sich weiß wie Kalk im Sitz festkrallen, sind irgendwie amüsant. Ich kann nur jedem mit Flugangst sagen: Diese Maschinen halten einiges aus! Ausgerechnet mein erster Flug, und dann noch inmitten eines Taifuns – dem stärksten seit 25 Jahren mit 330 km/h! Die Landung verlief entsprechend ruppig, aber sicher. Da wurde mir klar: Ich bin wirklich in Japan.
Der Haneda Airport ist ruhig. Wirklich ruhig, fast wie bei einer Beerdigung – und das auf einem riesigen Flughafen. Niemand spricht, und wenn doch, dann sehr leise. Japaner schauen fast ausschließlich auf ihr Smartphone – Smombieland. Das passt perfekt, denn als Softwareentwickler liebe ich mein Smartphone und spiele begeistert Pokémon Go – wo, wenn nicht hier, könnte das besser passen?
Es gibt Schlangen – überall, jeder steht geduldig in Reih und Glied. Ein japanisches Sprichwort sagt: „Warten ist die verlängerte Vorfreude.“ Und tatsächlich verneigt man sich hier bei jeder Begegnung. Anders, als ich dachte, war das Verneigen gar nicht peinlich – eher eine sehr respektvolle, höfliche Geste. Nicht die theatralischen Bücklinge, wie man sie aus Filmen kennt, eher ein tiefes Nicken. Ein Lächeln dazu, und fertig. Selbst nach den ersten vier „Arigatō gozaimasu“ bin ich noch nicht am Ziel – die Schlange ist lang. Dann endlich: Ein biometrisches Foto, Fingerabdrücke, weitere Verbeugungen – ich habe es geschafft. Jetzt aber erst mal eine rauchen … äh, nein. Rauchverbot, fast überall in Japan. Man raucht nur an ausgewiesenen „Smoking Areas“ – und das finde ich gut. Hier will man Rücksicht nehmen, kündigen die Schilder an: „Danke, dass Sie Rücksicht nehmen und hier rauchen. Denken Sie daran, dass Sie sonst mit einer 700 °C heißen Zigarette durch eine Menschenmenge laufen würden und jemanden verletzen könnten.“
Nun auf zum Bahnhof! Kaum in der großen Flughafen-Halle angekommen, wird uns sofort freundlich geholfen – mit einer Verneigung wird uns sogar der Weg zum Bahnhof gezeigt. Kurz darauf sind wir am Ziel und bereit, die japanische Bahn zu erleben. Das System ist unglaublich durchdacht: Die Zuglinien haben Farbcodes, die nicht nur auf den Beschilderungen und Bildschirmen, sondern auch am Boden und den Zügen selbst zu finden sind. Einfach genial. An den Bahnsteigen bilden sich geordnete Schlangen – alles verläuft reibungslos. Hier spricht niemand, auch im Zug herrscht Stille und das gewohnte Bild: Smombies.
Eine neue Entdeckung folgt: die Rolltreppen. Die Japaner stehen immer links und lassen die rechte Seite für Eilige frei – selbst die Rolltreppe begrüßt und verabschiedet einen. Dann fällt mir die gelbe Linie auf, die sich durch die gesamte Station und darüber hinaus zieht, mit hervorstehenden Noppen. Sie ist ein Leitsystem für Blinde, und in ganz Japan zu finden. Der Wahnsinn.
Am Ziel angekommen, marschiere ich mit meinem Koffer und Google Maps auf dem Smartphone zur Wohnung – und das links auf dem Gehweg, die rechte Seite ist für die Gegenrichtung. Überall werde ich höflich begrüßt, niemand drängelt. In jedem Geschäft ein Lächeln und eine freundliche Begrüßung.
Der Taifun hatte unterdessen in Hokkaido und Kyoto gewütet und die Infrastruktur beschädigt – Millionen Menschen ohne Strom, Wasser, Licht. Einige Atomkraftwerke hatten sich heruntergefahren. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus. Hier bin ich, im Land meiner Träume, und während ich nur 180 km/h starken Wind und sintflutartigen Regen erlebe, haben 300 Menschen ihr Leben verloren. Diese Naturgewalt am ersten Tag meiner Ankunft gibt mir ein Gefühl der Demut. Das Land das ich so sehr liebe, ja geradezu verehre hat 300 Menschen gerade das Leben geraubt während ich knapp 400 Kilometer entfernt in Tōkyō nur starken Wind spüre und wasserfallartigen Regen habe. Die Polizei sowie Einheimische warnen davor das Haus jetzt zu verlassen. Der Taifun fegt also die Nacht über Japan hinweg und bringt Temperaturen von knapp 39 Grad mit sich. Und das bei einer Luftfeuchtigkeit von 80%.
Der Morgen danach: Ein beeindruckendes Gewitter über Tōkyōs Skyline, Blitze zuckend zwischen den Wolkenkratzern. Ich hatte das Glück, auf meinem Balkon zu stehen und das Schauspiel zu erleben. Ein unvergleichlicher erster Sonnenaufgang im Land der aufgehenden Sonne. Dann hält alles für einen Sekundenbruchteil den Atem an, die Erde bebt, und das Abenteuer beginnt. Die unzähligen Strommasten, die sich kreuz und quer durch das gesamte Stadtbild ziehen, wackelten gemächlich hin und her, und dann war der Zauber vorbei. Der eingeschaltete Fernseher sprang sofort von allein auf einen Nachrichtensender: Ein Erdbeben der Stärke 5 – hier ist das wie Zähneputzen, es gehört einfach dazu und hat keinerlei Auswirkungen auf irgendetwas. Ich beruhigte meinen Puls mit einem Kaffee und begann den Tag in einer Millionenmetropole, die so leise ist wie meine eigenen vier Wände. Es ist kaum vorstellbar, wenn man es nicht selbst erlebt hat, aber es ist wirklich überall und zu jeder Zeit ruhig und leise.
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