Nach etlichen Litern kaltem Kaffee aus dem BOSS-Automaten gegenüber sind wir endlich losgezogen. Mehr oder weniger wach starten wir in den Tag, schlendern die Straße entlang, die nahe unserer Wohnung liegt – ohne festes Ziel, dafür mit Spiegelreflex und Digicams bewaffnet, wie echte Touristen. Stolze 300 Fotos später habe ich halb Kamiikebukuro auf der SD-Karte festgehalten. Für eine Stadt mit 38 Millionen Einwohnern entdecke ich auf den Bildern erstaunlich wenig Menschen. Ein Blick auf die Uhr zeigt: es ist erst 6:30 Uhr. Heiliger Himmel, wann war ich zu Hause zuletzt freiwillig so früh auf den Beinen? Wir freuen uns über die Stunden, die uns noch bleiben, um diese Megastadt zu erkunden, und suchen unser erstes Ziel: das „animate“ – ein Einkaufszentrum für alles rund um Anime-Merchandise.
Nach ein paar weiteren Getränkeautomaten, die wir fleißig mit 100-Yen-Münzen füttern, um uns mit Milchgetränken wie GunGunGurt zu erfrischen, erreichen wir schließlich das „animate“. Ein buntes Paradies für Anime-Fans. Alles kostet, verglichen mit Deutschland, nur einen Apfel und ein Ei. Für den Preis, den hier unser gesamter Einkauf kostet, bekäme man in Deutschland gerade mal ein einziges Teil – ein weiterer Traum wird wahr. Zumal es diese tollen, bunten Sachen bei uns gar nicht gibt: „FOR SALE IN JAPAN ONLY“ prangt auf fast jeder Verpackung und erfüllt uns mit einem Anflug von Stolz.
Nach der anstrengenden Shoppingtour bei 38 Grad suchen wir nach einem Raucherspot. Die Blicke, die uns treffen, sind wahrscheinlich nicht nur unserer Größe geschuldet, sondern vor allem unserer sichtbaren Freude – und ja, vielleicht verhalten wir uns auch ein wenig wie Kinder. Doch was soll’s – solange wir niemanden nerven und leise sind, darf man uns ruhig ansehen, dass wir mächtig Spaß haben. Wir sind in unserem Traumland, im „Anime-Land“ schlechthin, in einer Welt, in der Manga-Figuren und Anime-Stars an jeder Ecke gegenwärtig sind. Ob in Akihabara, der Pilgerstätte für jeden Gaming- und Anime-Fan, oder mitten in der Stadt und auf Bildschirmen des Nachrichtensenders OHA 4 NEWS: Animes sind allgegenwärtig. Umgeben von ihnen saugen wir alles auf wie Schwämme. Es wird schnell klar, dass hier nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird: Trotz der Disziplin und Regeln in Japan gibt es auch hier Ausnahmen. Der kleine Park vor der „Smoking Area“ wird kurzerhand zu einem riesigen Raucherspot, und hin und wieder landet eine Kippe auf dem Boden. Es dauert jedoch nur einen Augenblick, bis ein Angestellter der Stadt den „Müll“ beseitigt – mit weißen Handschuhen, einem Kehrblech und einer höflichen Verbeugung samt „すみません“ (Sumimasen), bevor er weiterzieht.
Vor uns trifft sich alles, vom Schulmädchen wie aus den verspieltesten Animes bis hin zu elegant gekleideten Frauen und Männern in Anzügen und Kostümen, um eine zu rauchen. Das ist das erste Mal, dass wir einer großen Menschenmenge begegnen und etwas wie Gespräche hören – natürlich gedämpft und leise. Wir setzen uns in den Park und genießen unsere morgens gekauften Sandwiches und Melonenbrote. Essen beim Gehen – das ist hier undenkbar. Stattdessen nimmt man sich Zeit und setzt sich wenigstens auf eine Bank. Zwar würde uns das nicht ins Gefängnis bringen, doch grimmige Blicke wären uns sicher. Unsere Liebe zu diesem Land hat uns schon Jahre vor unserer Reise die Sitten und Bräuche der „Herzensheimat“ nahegelegt.
Gestärkt geht es weiter, und wir erkunden bis in die Abendstunden das U-Bahnsystem. Schließlich landen wir in Sumida am Tokyo Skytree. Der Eingang zum zweithöchsten Gebäude der Welt ist schnell gefunden, doch der richtige Zugang erweist sich als knifflig. Es gibt einen normalen Eingang und einen International Entrance für Ausländer, an dem man mit etwas Glück auch andere Sprachen als Japanisch spricht. Glücklicherweise liegen auf dem Weg dorthin zwei weitere Raucherspots, die wir selbstverständlich sofort nutzen. Mit unseren hilflosen Blicken erregen wir die Aufmerksamkeit ein paar aufmerksamer Japaner, die uns in drei verschiedenen Sprachen ansprechen, bis wir uns schließlich auf „Japenglish“ einigen. Die Japaner zeigen Verständnis dafür, dass wir unsere wenigen Japanischkenntnisse präsentieren wollen.
Dann trifft uns der nächste „Schlag“ wie ein Hammer auf den Daumen: Man rät uns, heute das normale Ticket statt des VIP FAST Tickets zu kaufen, weil nicht viel los sei. Das ist eine Ersparnis von umgerechnet 35 Euro – aus purer Höflichkeit erlassen. Etwas, das ich in Deutschland nur schwer für möglich halte. Dort heißt es doch meist: Geld, Geld, Geld. Doch in Japan? Hier zählt das Wohl der Besucher.
Mit einer Verbeugung verabschieden wir uns und gehen Richtung Fahrstuhl. Dort werden wir mit einem freundlichen „ありがとうございます“ (Arigatō gozaimasu) empfangen, und bevor wir uns versehen, öffnet uns die Angestellte den Fahrstuhl. Die Türen schließen sich, und die Empfangsdame verneigt sich noch tiefer als alle anderen zuvor – ein Zeichen höchster Wertschätzung. Die Fahrt hinauf in 450 Meter Höhe dauert nur wenige Sekunden, in denen der Druck auf unsere Ohren fast wie beim Flugzeugstart spürbar ist. Endlich öffnen sich die Türen, und mit einer weiteren Verbeugung werden wir hinausgebeten. Vor uns breitet sich das nächtliche Tokio in all seiner Pracht aus, 360 Grad Skyline auf 450 Meter Höhe. Der Anblick ist atemberaubend – so sehr, dass wir die Kameras einen Moment lang vergessen und die Stadt mit unseren eigenen Augen genießen.
Als wir uns an den Fenstern die Nasen plattdrücken, spricht uns plötzlich jemand auf Deutsch an. Eine Mitarbeiterin des Skytree bietet uns an, ein Foto zu machen. Sie spricht gebrochenes Deutsch, aber verständlich, und erkennt sofort die Schriftzeichen auf dem T-Shirt meines Freundes. „Hong Kong“ stand dort auf chinesisch. Gebannt lauschen wir, wie sie uns erklärt, dass sie Chinesin sei, schon viele Jahre in Japan lebt und Deutsch als Hobby gelernt hat. Nach ein paar leider verschwommenen Bildern, die sie von uns knipst, verabschiedet sie sich mit einem Lächeln und einem „viel Spaß“ und wendet sich anderen Besuchern zu.
Nach zwei weiteren Millionen Fotos vom beleuchteten Tokyo Skytree geht es auf den Heimweg. Rein in die Bahn und ab nach Ikebukuro. Moment mal… Ein türkisfarbenes Eis aus einem Automaten musste natürlich auch sein. Doch das Hörnchen schmilzt, und die türkisblaue Masse rinnt mir allmählich über die Hand, während ich ewig lang nach einem Mülleimer suche. Da war doch dieser Terroranschlag, der Japan dazu brachte, die Mülleimer in öffentlichen Bereichen abzuschaffen. Seitdem nehmen die Japaner ihren Müll eben einfach mit nach Hause oder entsorgen ihn vor den Konbinis. Okay, gelernt – ab morgen habe ich eine wasserdichte Tüte im Rucksack.
Man hört so viel über das japanische Zugsystem, und ich kann es nur bestätigen: Es ist ein pünktliches, sekundengenaues Meisterwerk. Alle drei Minuten ein Zug, und ja, gelegentlich wird gedrückt und gequetscht, aber es war nie unangenehm. Tatsächlich erinnert es mich an meine Schulzeit, als mein Bus oft voller war. Und während ich hier in der Bahn sitze, wird mir bewusst: Die Japaner haben diese faszinierende Fähigkeit, in ihrer eigenen Welt zu leben. Sie schenken anderen kaum einen Blick – selbst auf die Handys anderer zu starren wäre unhöflich. Und auch wir werden kaum wahrgenommen, außer für ein leises „Sugoiii“ ab und an. Vielleicht, weil wir uns locker an den oberen Metallstangen festhalten können und so über den meisten Köpfen sind.
Es ist alles wie in einem Traum – ein Traum, der mit jedem neuen Erlebnis lebendiger wird und mich immer mehr für dieses Land einnimmt.
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