In Japan sieht man sie fast überall – mal stehen sie allein am Wegesrand, mal sind sie in einem Wald versteckt, oder sie stehen zu Hunderten in mehreren Reihen unter Kirschbäumen. Auch in kleineren Gruppen findet man sie entlang von Wegen, vor Tempeln und in Städten. Die Rede ist von Jizō – den meist kleinen steinernen Statuen, denen nicht selten rote Mützen aufgesetzt und ein Lätzchen oder Schal umgebunden ist. Häufig befinden sich vor oder neben jeder Statue ein buntes Windspiel, eine Blume und kleinere Opfergaben.
Dieser Beitrag ist möglicherweise nicht für jeden neugierigen Menschen geeignet! Es geht um Tod, den Verlust von Kindern und Abtreibung – bitte lies nicht weiter, wenn diese Themen dich in irgendeiner Weise negativ beeinflussen.

Was sind Jizō?
Ganz nüchtern betrachtet ist Jizō (地蔵) – auch Kshitigarbha (Sanskrit: क्षितिगर्भ) genannt – ein Wesen aus dem Buddhismus. Genauer gesagt handelt es sich um einen Bodhisattva (Sanskrit: बोधिसत्त्व), was so viel wie „Erleuchtetes Wesen“ oder „Erleuchteter“ bedeutet. Ein Bodhisattva hat aus eigener Kraft die Erleuchtung erlangt und strebt danach, auch anderen Lebewesen auf ihrem Weg zur Erleuchtung zu helfen. Im Mahayana-Buddhismus, einer der Hauptströmungen des Buddhismus, setzen diese erleuchteten Wesen all ihre Kraft dafür ein, allen lebenden Wesen – einschließlich uns Menschen – beizustehen.
Übringes
Der eigentliche Name ist Kshitigarbha, nur im japanischen wird Jizō verwendet.
Aussehen
Jizō-Statuen zeigen stets die Gestalt eines buddhistischen Mönchs. Unter den Bodhisattva-Figuren sticht Jizō durch die besondere Darstellung mit kahl geschorenem Kopf hervor. Zu den typischen Attributen eines Jizō gehören ein Pilgerstab und/oder eine Kugel – genauer gesagt eine Wunschperle (auch Wunschjuwel genannt). Die kleinen, oft kindlich und niedlich dargestellten Jizō-Statuen erscheinen hingegen meist ohne diese Utensilien. Sie werden eher in betender Haltung dargestellt oder tragen einen steinernen Umhang, der Arme und Hände vollständig bedeckt.
Geschichte
Die ersten Erwähnungen von Jizō gehen – wie vieles andere den Buddhismus Betreffende – auf die Heian-Zeit (794–1185) zurück. Eine Quelle hierfür ist das Konjaku Monogatarishū (今昔物語集), eine Sammlung von über 1.000 Erzählungen aus der späten Heian-Zeit. Diese Sammlung umfasst sowohl buddhistische als auch volkstümliche Texte.
Das Konjaku Monogatarishū – 今昔物語集

Heute sind noch 28 der ursprünglich 31 Bände erhalten und im japanischen Nationalarchiv und dem digitalen Archiv der Kyōto University zu finden. Alle diese Sammlung betreffenden Inhalte und Medien, sind unter der Public Domain Lizenz (CC0) für die Verwendung weltweit freigegeben.
Quelle des Bildes: Downloadbereich Nationalarchiv Japan
Warum Jizō?
Warum Jizō oft mit roten Lätzchen und Schals geschmückt wird und weshalb man häufig kleine Steinhaufen neben seinen Statuen sieht, erkläre ich im nächsten Abschnitt. Zunächst möchte ich dir jedoch erläutern, welche Rolle Jizō im buddhistischen Glauben zuteilwurde.
Dieser Bodhisattva begleitet – oder besser gesagt geleitet – die Seelen Verstorbener auf ihrer Reise ins Totenreich über den mythologischen Fluss Sanzu (三途の川). Ähnlich wie in vielen anderen Religionen existiert auch im Buddhismus eine Vorstellung von Himmel und Hölle. So wird Jizō nachgesagt, in die Hölle hinabgestiegen zu sein, um dort die Seelen der Sünder zu retten – weshalb man Jizō-Statuen häufig auf Friedhöfen findet.
Traditionell gilt Jizō jedoch als Schutzgottheit der Kinder, insbesondere derjenigen Kinder, die vor ihren Eltern verstorben sind.
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Im Buddhismus heißt es, dass Kinder zu jung sind, um Böses begangen zu haben. Daher gelangen sie nach ihrem Tod selbstverständlich nicht in die Hölle. Sie können jedoch auch nicht sofort ins Totenreich eintreten. Die Seelen dieser Kinder wandern stattdessen in einer Art Zwischenwelt umher, bis niemand mehr um sie trauert. In dieser Zwischenwelt hoffen sie darauf, von Jizō gefunden zu werden, der sie dann über den Fluss Sanzu ins Totenreich führt. Um Jizō besser auf sich aufmerksam zu machen, stapeln diese kleinen Seelen am Flussufer kleine Steinhaufen aufeinander.
Viele Menschen – insbesondere in Japan – unterstützen diese Kinderseelen, indem sie auch in der Welt der Lebenden solche Steinhaufen errichten. Um Jizō zusätzlich zu helfen, die Kinderseelen zu finden und zu erlösen, schmücken sie die Statuen mit roten Mützen, Lätzchen und Schals. Die Entscheidung für die Farbe Rot basiert auf der traditionellen japanischen Überzeugung, dass die Farbe böse Geister fernhält und negative Einflüsse abwehrt. Besonders Neugeborene und Kinder gelten als schutzlos, weshalb Eltern ihre Kinder oft in rote Kleidung hüllen, um sie vor negativen Einflüssen und Ereignissen zu schützen.
Dieser Akt dient nicht nur dazu, die Seelen zu unterstützen, sondern hilft auch den Hinterbliebenen bei der Trauerbewältigung – besonders, wenn das verstorbene Kind ein Mizuko war.
Wasserkinder
Mizuko (水子), wörtlich „Wasserkind“, ist das japanische Wort für eine totgeborene Seele. Früher wurde der Begriff auch für Kinder verwendet, die sehr früh verstorben sind. So schön das Wort „Wasserkind“ an sich klingen mag, es birgt eine grausame und dunkle Geschichte.
Mizuko stehen nicht nur für Tot- und Fehlgeburten sowie abgetriebene Kinder, sondern auch in Verbindung mit einer historischen Form postnataler Geburtenkontrolle. In Not und Armut – aber auch zur Sicherung des Wohlstands – wurde Kindstötung von der Gemeinschaft oft stillschweigend akzeptiert. Unerwünschte Mädchen und Jungen, insbesondere solche, die nach einem erstgeborenen Sohn geboren wurden, wurden nach der Geburt getötet. Diese getöteten Kinder wurden Mabiki (間引き) genannt, was wörtlich übersetzt „Pflanzen aus einem überfüllten Garten reißen“ bedeutet – also das „Ausdünnen“ der eigenen Familie.
Mizuko kuyō (水子供養)
Um Schuldgefühle zu lindern, die Trauer besser zu bewältigen und aus Angst vor der Vergeltung eines Rachegeistes (怨霊, Onryō), entstand die sogenannte Wasserkind-Gedenkzeremonie: Mizuko kuyō (水子供養). Der genaue Ablauf einer solchen Zeremonie variierte – und variiert noch heute – je nach Tempel und wird oft individuell auf die Wünsche der Familien angepasst.
Üblicherweise wird gegen eine kleine Spende an den Tempel eine Jizō-Figur im Tempelgarten aufgestellt. Diese Figur dient als Ort des Gedenkens, insbesondere dann, wenn ein übliches Begräbnis nicht möglich war oder ist. Mizuko kuyō werden in Japan heute wieder vermehrt praktiziert, auch wenn sich die historische Bedeutung und die Gründe für solche Zeremonien verändert haben.
Heute ist eine postnatale Geburtenkontrolle natürlich undenkbar und strafbar. Ein genauer Zeitpunkt, ab dem diese Praxis in Japan verschwand, lässt sich für mich schwer benennen. Was jedoch bekannt ist: 1869 wurde ein Verbot und 1890 die Strafbarkeit von Abtreibung und Kindsmord gesetzlich verankert. Langzeitdaten, die über 140 Jahre zurückreichen, zeigen, dass die Geburtenrate in Japan aber bereits ab 1868 stark anstieg. Diese Entwicklung setzte sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs fort, bevor die Geburtenrate seither steil abfiel.
Info: Die dem vorherigen Absatzes zugrundeliegenden Informationen, stammen vom VSJF – Vereinigung für sozialwissenschaftliche Japanforschung e.V aus der Veröffentlichung Japanische Geburtenpolitik in Geschichte und aktuellem Diskurs (Limits of Political Feasibility: Birth Control Policy and the Low Birth Rate in Japan – PDF, Seite 5, Ursprungsdokument Seite 333) von Prof. Dr. Karin-Ulrike Nennstiel.
Jizō als Helden
Der Anblick eines Jizō muss in dir nicht zwangsläufig Traurigkeit auslösen, denn er steht nicht immer für ein verstorbenes Kind. Wie bereits erwähnt, ist Jizō ein Schutzgott der Kinder. Wenn er in dieser Rolle ein Kind vor einem tragischen Unfall bewahrt oder von einer schweren Krankheit geheilt hat, wird oft zum Dank eine Jizō-Statue aufgestellt.
Nochmal zum Aussehen
Falls du selbst nach Jizō-Statuen gesucht hast oder bereits welche gesehen hast, ist dir vielleicht aufgefallen, dass sie in unterschiedlichen Größen und Formen vorkommen. Neben den kleinen, kindlich wirkenden Jizō-Statuen gibt es auch größere, die eher einem erwachsenen Mönch ähneln – diese stellen die „normale“ Form dar. Die kleineren Jizō-Statuen sind speziell für Kinder gedacht und werden nicht selten so gestaltet, dass sie dem verstorbenen Kind ähneln.
Viele Tote am Straßenrand?
Nein, auf keinen Fall! Auch wenn dir auf vielen Wegen, vor allem auf Wander- und Pilgerpfaden, häufig kleine Jizō-Statuen begegnen, stehen diese nicht zwangsläufig für verstorbene Seelen. Stattdessen sollen sie Wanderern und erschöpften Pilgern Mut und Kraft schenken und sie so auf ihrer Reise unterstützen. Wie Jizō im Jenseits den Seelen hilft, den Fluss zu überqueren, hilft er den Lebenden im Diesseits, den Weg bis ans Ziel zu gehen.
Tatsächlich handelt es sich bei diesen Wegesrand-Statuen oft gar nicht direkt um Jizō, sondern um Dōsojin (道祖神).
Dōsojin (道祖神)

Dōsojin sind die japanischen Beschützer von Straßen, Wegen, Grenzen und Reisenden. Diese Gottheiten werden oft durch schlichte, steinerne Gebilde ohne genaue Form repräsentiert, manchmal aber auch als menschliches Paar dargestellt oder zeigen aus Holz geschnitzt menschliche Genitalien. Sie sind häufig mit Schriftzeichen versehen und von einem Shimenawa umschlungen.
In Japan werden Jizō jedoch oft ebenfalls zu den Dōsojin gezählt. Aus diesem Grund begegnet man kleinen Jizō-Statuen so häufig am Wegesrand – sie stehen symbolisch für den Schutz und die Begleitung der Reisenden.

Symbolbild für einen Dōsojin – dies ist eigentlich ein Gedenkstein im Kitanomaru-Park 北の丸公園 in Chiyoda, ähnelt aber einem Dōsojin.
Anmerkung
Weiterführende Informationen zu Jizō Bodhisattava findet du hier im Japanese Wiki.
Anmerkung
Weiterführende Informationen zu Mabiki (間引き) findet du hier im englischen Wikipedia.
traurig und schön zugleich