

In Japan muss ein Torii (鳥居) nicht zwingend immer zinoberrot sein – das zeigen bereits die ersten beiden Bilder des Yasukuni-Schreins. Die Tore Japans begegnen dir fast überall, und sie existieren in zahlreichen Größen und Formen. Eines jedoch haben alle Tore gemeinsam: ihren Grundaufbau und den Grund, warum sie genau an dem Ort stehen, an dem sie stehen.
Natürlich mag auch ich, die berühmten Torii, wie das vor dem Itsukushima-Schrein oder die unzähligen, hintereinandergereihten zinoberroten Torii des Fushimi-Inari-Schreins in Kyōto. Auch das weltweit bekannte Torii von Miyajima ist wunderschön anzusehen. Aber weißt du, was ich persönlich noch viel magischer finde? Ich liebe die kleinen Schreine, die du häufig in Nischen oder auf Dächern – den Rooftops – entdecken kannst. Jedes Mal, wenn ich einen solchen kleinen Schrein auf einem Dach finde, ist das für mich ein unbeschreiblich magischer Moment. Sie wirken dort irgendwie völlig fehl am Platz und gleichzeitig so, als könnte es keinen besseren Ort für sie geben.
Diesen kleinen Schrein mit Torii habe ich auf dem Dach des Palace Side Building (パレスサイドビル) in Chiyoda gefunden.


Das Torii (鳥居)
Torii sind nicht nur dekorative und wunderschön anzusehende Bauwerke, sie haben einen tief in der japanischen Kultur verwurzelten Sinn: Ein Torii trennt ein heiliges Gebiet von der profanen, also unserer, Welt.
Fast alle Torii stehen, quasi als realer und symbolischer Eingang, vor Schreinen. Über den genauen Ursprung und die Herkuft sind unzählige Theorien vorhanden, darunter sind gleichermaßen viele zu finden, die einen inländischen als auch einen ausländischen Ursprung, etwa in Indien oder Nepal, vermuten. Ebenso gibt es zahlreiche Theorien, die sich auf die verschiedensten Mythologien beziehen, während wiederum andere einen ganz weltlichen Ursprung vermuten. Danach waren es ursprünglich die Überreste eines Hauses, von denen nur noch die Dachbalken standen und somit eine Art Grabmal der im Haus verstorbenen Seelen bildeten.
Der Begriff Torii (鳥座) setzt sich übrigens aus den Kanji für „Vogel“ (鳥) und „Sitz“ (座) zusammen, was wörtlich übersetzt „Vogelsitz“ bedeutet.
Meine Recherche im japanischen Nationalarchiv ergab eigentlich keine großartigen Ergebnisse. Die einzigen glaubwürdigen Quellen für einige Ursprungstheorien sind die japanische Nationalbibliothek, die wiederum auf das japanische Wikipedia verweist, und die Kotobank Japan. Alle sind sich jedoch einig, dass es unmöglich ist, den genauen Ursprung der Torii zu nennen.
Eine Theorie, die ich persönlich sehr mag, ist im Kojiki (古事記) zu finden. Das ist eine Sammlung oder vielmehr ein Geschichtsbuch aus dem Jahr 712, das die japanische Mythologie umfasst. Das Kojiki ist ein Nationalschatz und wird im Shinpukuji-Tempel aufbewahrt. Eine vollständige digitale Kopie in Bildform des Kojiki findest du in der japanischen Nationalbibliothek, klicke einfach hier.
Amaterasu (天照), die Sonnengöttin, war verärgert über ihren Bruder, der verwerflich handelte und Untaten beging. Aus Zorn darüber zog sich die Sonnengöttin in eine Felsenhöhle zurück, woraufhin die Welt in Dunkelheit und Chaos versank. Um Amaterasu wieder zur Besinnung zu bringen und aus der Höhle zu locken, versammelten sich die Kami (Gottheiten) vor der Felsenhöhle und schufen einen Plan. Vor dem Eingang der Felsenhöhle wurden reiche Opfergaben dargebracht und Rituale abgehalten. So folgte auch ein Tanz der Göttin Ame no Uzume (天鈿女), die dabei ihre Brüste und Genitalien entblößte, was die umstehenden Götter in fröhliches Gelächter ausbrechen ließ. Daraufhin öffnete sich das Tor der Felsenhöhle, und Amaterasu blickte hinaus zu den Göttern. Während der Gott Ame no Tajikarao (天手力男神), der neben dem Höhleneingang stand, die Sonnengöttin hinauszog, spannte der Gott Ame no Futotama (太玉命) sofort ein Seil quer über den Eingang, um Amaterasu daran zu hindern, sich wieder in der Höhle zu verstecken.
Dieses Seil wird seit jeher als erstes Torii bezeichnet.
Quelle: Kojiki, Universität Wien und der Deutsch Japanische Stammtisch
Farben, Formen und Materialien
Zinoberrot
Warum sind die meisten Torii zinoberrot? Falls du schon den Beitrag Jizō – klein, süß und traurig gelesen hast, kennst du den Grund schon. Falls nicht: In Japan steht die Farbe Rot traditionell für die Überzeugung, dass sie böse Geister fernhält, Krankheiten heilen kann und negative Einflüsse abwehrt. Natürlich fügt sich ein zinoberrotes Torii auch besser in das Gesamtbild ein, da oft auch die Zentralgebäude eines Schreins in dieser Farbe gehalten sind.
Grundform
Ein Torii besteht – ganz gleich, um welchen Typ es sich handelt – aus den folgenden Grundelementen, die du (fast) immer finden kannst: die beiden außenliegenden Pfosten, die man Hashira (柱) nennt, der ganz oben liegende Querbalken, Kasagi (笠木), und der, wenn vorhanden, darunterliegende Querträger, Nuki (貫). Oft ist der Kasagi mit dem Nuki durch eine in der Mitte angebrachte Strebe, die sog. Gakuzuka (額束), verbunden, die oft verwendet wird, um ein Schild daran zu montieren. Auf diesem Schild steht meist der Name des Schreins. Das gesamte Torii steht natürlich nicht einfach auf dem Boden, sondern ruht auf einem Stein- oder Betonsockel, der Kamebara (亀腹) genannt wird.

Materialien
Torii können aus ganz unterschiedlichen Materialien bestehen, je nachdem, wo sie stehen und wie alt sie sind. Die klassischen Torii sind aus Holz, oft Zypressenholz (ヒノキ, Hinoki), gefertigt, weil das besonders robust und schön ist. Meistens werden sie dann zinoberrot oder schwarz lackiert, damit sie wetterfest bleiben. Es gibt aber auch Torii aus Stein, die vor allem bei älteren Schreinen oder in den Bergen zu finden sind. Modernere Varianten sind manchmal aus Metall wie Stahl oder Bronze, das wirkt moderner und ist witterungsbeständiger. Und in Städten oder kleineren Schreinen sieht man auch mal Torii aus Beton (meine Lieblingsvariante). Jedes Material gibt dem Schrein eine eigene Stimmung!




Varianten
Auch wenn die meisten Torii, die uns begegnen, dem Myōjin Torii Stil oder dem des Shinmei Torii Stils entsprechen, gibt es noch eine ganze Menge anderer „Formen“. Im Großen und Ganzen unterteilt man Torii jedoch nur in diese beiden eben genannten Stile, die allerdings jeweils ein paar Untervarianten haben. Einige wenige, bei weitem aber nicht alle, liste ich dir einmal auf:
神明鳥居 – Shinmei Torii
Die einfachste Form mit geraden, lotrechten Pfosten und geradem Querbalken. Ohne das vertikale Brett in der Mitte, also das sog. Gakuzuka.
明神鳥居 – Myōjin Torii
Die am häufigsten zu findende Form. Die Pfosten sind leicht nach innen geneigt, der obere Querbalken (Kasagi) ist leicht geschwungen. Oft sieht man sie mit Gakuzuka zwischen den Querbalken.
両部鳥居 – Ryōbu Torii
Ähnlich dem Myōjin Torii, aber mit vier zusätzlichen kleinen Stützpfosten (Das Torii am Miyajima-Schrein ist ein solches).
春日鳥居 – Kasuga Torii
Die Hashira verjüngen sich bei diesem Torii nach oben hin. Charakteristisch ist auch das Kasagi, das zu den Enden hin jeweils leicht nach oben geschwungen ist
八幡鳥居 – Hachiman Torii
Ähnlich dem Myōjin Torii, aber mit einem zusätzlichen horizontalen Balken (Nuki) unter dem Kasagi. Die äußeren Pfosten (Hashira) können sich nach oben hin verjüngen und sind nach innen geneigt.
黒木鳥居 – Kuroki Torii
Aus unbearbeitetem und ungeschältem Holz (Kuroki) gefertigt, das in seiner natürlichen Form belassen wird. In den meisten Fällen gibt es nicht mal eine Lackierung. Es ist die einfachste Art und wird meist mit Kazura zusammengebunden.
外宮鳥居 – Gekū Torii
Bei der Konstruktion werden nur traditionelle Materialien und Techniken verwendet, wobei sogar der Einsatz von maschinellen Sägen und Hobeln untersagt ist.
鹿島鳥居 – Kashima Torii
Diese Art ist nach dem gleichnamigen Schrein benannt. Es hat runde Säulen (円柱), auf denen ein Querbalken (笠木) mit rundem Querschnitt ruht. Nur der untere Querbalken (貫) ist aus Kantholz gefertigt.
山王鳥居 – Sannou Torii
Dieses Torii wird auch (Kara-)Hafu Torii (破風鳥居) oder Gasshou Torii (合掌鳥居) genannt. Es basiert auf dem Myōjin-Stil mit gebogenen oberen Querbalken. Das charakteristische Element ist ein Giebel, der über den beiden oberen Querbalken angebracht ist.
三輪鳥居 – Miwa Torii
Das Miwa Torii besteht aus drei Myōjin Torii ohne Neigung der Säulen. Die drei Torii sind miteinander verbunden, wobei sich ein großes Torii in der Mitte befindet und jeweils ein kleineres Torii rechts und links davon. Es kann mit oder ohne Türen vorkommen.“

Sugoi-chan: Das Miwa Torii (三輪鳥居) wird auch als Sankō Torii (三光鳥, „drei-Licht-Torii“), Mitsutorii (三鳥居, „dreifaches Torii“), Sankaku Torii (三角鳥居, „dreieckiges Torii“) oder Komochi Torii (子持ち鳥居, „Torii mit Kindern“) bezeichnet. Es ist die seltenste Art in Japan. Ein Tor im Miwa-Stil findest du am Ōmiwa-Schrein in Nara, der auch Namensgeber für diese Art war.
Verhalten
Sobald du auch nur mit einem Fuß durch ein Torii geschritten bist, verpflichtest du dich (religiös betrachtet) quasi dazu, dich angemessen und ruhig zu verhalten. Du hast die heilige Schwelle überschritten und befindest dich auf heiligem Boden. Es versteht sich von selbst, dass du solch einen Ort (aber auch jeden anderen) frei von Müll hältst, keine lauten Gespräche führst oder telefonierst und den Zauber dieses Ortes einfach auf dich wirken lässt.
Übrigens
Für Treppen ohne Geländer in der Mitte, die zu einem Schrein führen gilt: Laufe nicht in der Mitte die Treppen hinauf und auch nicht mittig durch ein Torii hindurch – dieser mittlere Weg ist ausschließlich für die Kami, also die Götter, gedacht.

Sugoi-chan: Wenn du durch ein Torii hindurchgeschritten bist und dich somit auf heiligem Boden befindest, achte darauf, dass du auch durch dasselbe Torii wieder hinausgehst. Falls du dir nicht sicher bist, dass du das tun wirst, kannst du auch seitlich am Torii vorbeigehen! Ob du nun dieser Religion angehörst oder nicht, zeige deinen Respekt und verneige dich, bevor du durch ein Torii hinein- oder hinausgehst. Vermeide es, Fotos von der „Rückseite“ eines Tores zu machen – also fotografiere das Torii nicht, wenn du dich bereits auf heiligem Boden befindest. Berühre das Torii auf keinen Fall!
Fun Fact
An manchen Zäunen und Sichtschutzwänden findest du kleine Mini-Torii aus Holz oder Metall. Sie sind oft nur wenige Zentimeter hoch und breit und sollen Wildpinkler davon abhalten, naja, du weißt schon… Da ein Torii traditionell eine heilige Bedeutung hat und viel Wertschätzung sowie Achtung erfährt, scheint dies eine sehr gut funktionierende Methode zu sein, um Menschen mit voller Blase davon abzuhalten, sich genau an diesen Stellen zu erleichtern.
Übrigens
Wenn du beispielsweise den Nezu-Schrein im Norden Tōkyōs im Bezirk Bunkyō besuchst oder vielleicht bei deiner nächsten Reise mit Landung in Haneda den Anamori Inari Schrein (穴守稲荷) im Bezirk Ōta besuchst, der ganz in der Nähe von Haneda liegt, wirst du die Torii-Tunnel finden, wie du sie wahrscheinlich vom weltweit wohl bekanntesten Fushimi Inari-Taisha Schrein (伏見稲荷大社) in Kyōto kennst.
Diese Tunnel markieren häufig den Sandō (参道), den Weg, der zu einem Shinto-Schrein oder einem buddhistischen Tempel führt. Dabei steht, sofern der Sandō mit Torii gesäumt ist, jedes durchschrittene Torii für eine weitere Stufe des Lichts, die du auf deinem Weg erreichst.

Sugoi-chan: Natürlich musst du dich bei diesen Torii-Tunneln nicht vor jedem einzelnen Torii verbeugen. Meist steht ein deutlich größeres und stilistisch anders gestaltetes Torii vor dem Sandō. Dieses Torii durchschreitest du wie jedes andere Torii auch – verbeugen, nicht anfassen – danach gehst du einfach den Weg entlang durch die unzähligen Torii, die dahinter liegen.
Der Anamori Inari Schrein ist wirklich nur wenige Minuten vom Haneda Airport entfernt und auf jeden Fall eine Reise wert. Mit der Keikyū Airport Line kannst du bis zur Haltestelle „Anamori-Inari Station“ fahren. Von dort aus sind es noch etwa 5 bis 10 Minuten Fußweg, je nachdem, wie viele Getränkeautomaten dir auf dem Weg begegnen 😉
Plane deine Route vom Airport zum Anamori Inari Schrein mit Google-Maps.

Heiliges Glück
Japan wäre ja nicht Japan, wenn es nicht auch etwas vollkommen Unerwartetes zu bieten hätte. Vielen dürfte bekannt sein, dass man als Besucher eines Schreins Geld spenden kann – dazu wirft man wenige bis einige hundert Yen in eine Spendenbox oder Opferkasse, die meist zentral vor dem Schrein platziert ist. Anschließend kannst du die Glocke läuten und nach ein paar weiteren kleinen rituellen Handlungen deine Gebete und Wünsche in das Götterreich schicken.
Du kannst aber auch den Motonosumi-Schrein besuchen, durch die 123 Torii schreiten und schließlich vor einem ganz besonderen Torii stehen. Na ja, ehrlich gesagt, verläuft der Weg genau andersherum, und es sind 123 Torii, die dich hinunter zum Meer führen. Dennoch – dieses Torii ist nicht nur wunderschön und mit Füchsen verziert, es kann unter Umständen auch deine Wünsche erfüllen. Denn in luftigen sechs Metern Höhe ist die Spendenbox mittig am Torii zwischen den Füchsen befestigt. Wer es schafft, seine Münze in diese Box zu werfen, dessen Wunsch wird – so heißt es zumindest – in Erfüllung gehen.


