Unbekanntes Juwel
Unbekanntes Juwel

Unbekanntes Juwel

Lesedauer 8 Minuten

Nun, den Einheimischen Japans dürfte dieses Juwel wohl kaum unbekannt sein, und doch scheint dieser Ort einfach nur zu existieren – still und unaufdringlich. Jeder hatte von ihm gehört, doch kaum jemand, von all den Einheimischen die ich fragte, waren jemals selbst dort gewesen. Dabei zählt dieser Ort zu den bedeutendsten Japans. Er ist weder tief verborgen noch ein gut gehütetes Geheimnis – höchstens ein offenes.

Ob es am eisigkalten Wetter lag oder ob hier stets eine solche Stille herrscht – ich vermag es nicht zu sagen. Doch bis auf zwei weitere Seelen begegnete mir stundenlang niemand. Nur Millionen winziger Schneeflocken begleiteten mich auf meiner Wanderung und verliehen der Szenerie eine noch tiefere Magie, wenn sie sich wie ein geheimnisvoller Schleier sanft vor den Tempeln und Schreinen niederließen.

Mein Abenteuer beginnt

Meine Reise führte mich nach Kamiyamaguchi, einem Stadtteil von Tokorozawa in der Präfektur Saitama. Früh am Morgen begann mein Abenteuer in Hamura. Ich nahm die Ōme Line, und schon nach dem ersten von zwei Umstiegen stellte sich dieses vertraute Gefühl ein: Es war, als würde ich nicht nur einen neuen, mir noch unbekannten Ort entdecken, sondern zugleich eine Reise in die Vergangenheit antreten – schon wieder. Mit jedem Umstieg wurden die Züge älter, die Bahnhöfe nostalgischer, und die Atmosphäre magischer. Die Lokomotiven und Waggons wirkten, als stammten sie aus einer anderen Ära und zögen mich mit sich zurück in ihre Zeit. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Ich kannte weder die Bahnhöfe noch die Städte, die an mir vorbeizogen – es war ein Abenteuer.

Mit der Seibu Line setzte ich meine Reise fort, bis ich schließlich in einen der wohl skurrilsten Züge einstieg, die ich je gesehen habe: den Leo Liner. Anders als herkömmliche Bahnen, die auf Stahlschienen fahren, bewegt sich dieser Zug auf einer Art Straße und rollt auf normalen Gummireifen – wie ein Auto. Es war ein seltsames, aber faszinierendes Gefühl, mit einem Zug zu fahren, der sich wie ein leiser, geschmeidiger Bus entlang der Betonwände bewegte.

Der Leo Liner

Der Leo Liner verkehrt auf der Seibu Yamaguchi-Linie zwischen Seibukyūjō-mae und Seibu-Yūenchi – eine kurze Strecke von nur etwa 2,8 Kilometern. Ursprünglich als Monorail eröffnet, wurde die Strecke 1985 durch ein Automated Guideway Transit (AGT)-System ersetzt. Die Bahn wird durch seitliche Führungsschienen stabilisiert und fährt besonders leise und sanft.

Obwohl der Leo Liner für den autonomen Betrieb ausgelegt ist, befindet sich in der Regel ein Zugführer an Bord, der die Bahn überwacht und die Abfahrten steuert. Die Hauptaufgabe dieses ungewöhnlichen Fahrzeugs ist es, eine Verbindung zum Seibu Dome sowie zum Seibu-Yūenchi-Freizeitpark herzustellen. Besonders an Veranstaltungstagen ist er eine wichtige Ergänzung zum Seibu-Bahnnetz.

Es mag nur eine kurze Strecke sein, doch allein das Gefühl, mit einem „Zug“ zu fahren, der sich wie ein Bus anfühlt, macht die Fahrt zu einem einzigartigen Erlebnis. Wer in der Gegend unterwegs ist, sollte sich eine Fahrt mit diesem kuriosen Gefährt – das auch optisch wunderschön gestaltet ist – nicht entgehen lassen! 🚆✨

Doch nicht nur der Leo Liner war eine Besonderheit. Schon der vorherige Zug, mit dem ich fuhr, hatte seinen ganz eigenen Charme. Ein altes Modell, wie man es heutzutage nur noch selten zu Gesicht bekommt. Und doch wirkte er keineswegs alt oder abgenutzt. Die Seibu Railway pflegt ihre Züge – und ihre Fahrgäste – mit einer solchen Hingabe, dass ich das wahre Alter des Zuges kaum erahnen konnte. Ob ein Jahr alt oder sechzig – er war in einem makellosen Zustand. Diese Mischung aus Nostalgie und Perfektion begegnet mir in Japan immer wieder. Hier altern Dinge nicht einfach – sie werden bewahrt, gepflegt und liebevoll erhalten.

Der Seibu Dome

Als ich die Seibukyūjō-mae Station verließ, stand ich plötzlich vor einem gigantischen Bauwerk, das mich augenblicklich in seinen Bann zog: der Seibu Dome – oder wie er heute offiziell heißt, der Belluna Dome. Zunächst wusste ich nicht genau, was dieses imposante Gebäude war, doch die gewaltige Kuppel ließ erahnen, dass hier große Veranstaltungen stattfinden. Tatsächlich ist der Seibu Dome die Heimat der Saitama Seibu Lions, eines der bekanntesten Baseball-Teams Japans. Was diesen Dome so besonders macht, ist seine halb-offene Architektur. Ursprünglich als offenes Stadion erbaut, wurde 1999 eine riesige Kuppel darüber errichtet. Doch anders als bei vielen Stadien, die nachträglich überdacht werden, blieb der Dome an den Seiten offen. Dadurch bewahrte er das Gefühl eines Freiluft-Stadions und schuf eine einzigartige Verbindung zur Natur. Während eines Spiels hört man das entfernte Rauschen der Bäume, spürt den Wind und hat manchmal das Gefühl, dass die gesamte Arena ein gigantisches Open-Air-Erlebnis ist.

Sayama Fudosōn

Nach meiner kurzen Begegnung mit dem Dome zog es mich weiter zu einer der spektakulärsten Tempelanlagen, die ich je gesehen habe. Doch bevor ich dort ankommen sollte, stoplerte ich quasi geradezu in einen anderen bedeutenden Ort – Sayama Fudōson. Zunächst hielt ich es für mein eigentliches Ziel – das unbekannte Juwel. Doch schnell stellte ich fest, dass dem nicht so war. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass dieser Ort weniger magisch war – ganz im Gegenteil.

Der Tempel entstand mit Unterstützung des Kan’ei-ji-Tempelnetzwerks und wurde von Yoshiaki Tsutsumi der Seibu Railway gefördert. Das Gelände war einst Teil des UNESCO Village, eines Themenparks, der historische Gebäude aus ganz Japan präsentierte. Viele der heutigen Strukturen wurden in den 1940er und 1950er Jahren gesammelt und später hierher verlegt.

Architektonische Schätze aus der Edo-Zeit

Zu den beeindruckendsten Bauwerken des Tempels gehören mehrere historische Tore, die ursprünglich zum Taitoku-in Mausoleum von Tokugawa Hidetada, dem zweiten Shōgun der Tokugawa-Dynastie, gehörten. Diese Tore sind wertvolle Kulturgüter und wurden 1963 an diesen Standort verlegt.

Yamaguchi Kannon

Yamaguchi Kannon – das war mein eigentliches Ziel. Schon von weitem fiel mir die fünfstöckige Pagode (Okunoin Gojūnotō) ins Auge, die sich mit ihrer leuchtend roten Silhouette majestätisch vor den bewaldeten Hügeln erhob. Die gesamte Anlage zeichnet sich durch eine chinesisch inspirierte Architektur aus – ein Anblick, der in Japan eher selten zu finden ist.

Besonders beeindruckend war für mich die lange Treppe, die von einem kunstvoll geschnitzten Drachen-Geländer gesäumt wurde. Es wirkte fast so, als würde sich der Drache die gesamte Treppe hinaufschlängeln, als würde er über diesen heiligen Ort wachen. Auch weiter unten, am Hang, gab es mehrere Tempelgebäude, um die sich Drachenfiguren wanden – und selbst an der Spitze begegneten mir zwei Drachen, als ob sie den Ort beschützen würden.

Doch das vielleicht faszinierendste Element dieser Tempelanlage war der Berghang, an dem sich tausende kleine Jizō-Statuen reihten. Es war ein erhabener Anblick – all diese Jizō-Abbilder in Reih und Glied, fast so, als wären sie die stillen Wächter eines uralten Geheimnisses. In Wahrheit sind sie jedoch die Schutzgottheiten der Reisenden und insbesondere der Kinder. Besonders magisch war der Anblick in der Abenddämmerung: Die Schatten wurden länger, die Luft kühler, und eine ganz eigene, beinahe mystische Atmosphäre legte sich über den Ort. Ich musste mich zwingen, weiterzuziehen, denn am liebsten hätte ich mich einfach hingesetzt und noch Stunden in dieser Stille verbracht.

An einem der unzähligen Eingänge dieser Anlage findet sich auch ein weißes Pferd, dem viele Opfergaben dargebracht werden. Der Legende nach betete Nitta Yoshisada (新田義貞, 1301–1338) einst im Konjōin, bevor er im Jahr 1333 nach Kamakura aufbrach, um die Hōjō zu besiegen und das Kamakura-Shogunat zu stürzen. Das hier dargestellte weiße Pferd soll die Schlacht überlebt und den Rest seines Lebens in der Ruhe des Tempels verbracht haben.

Übrigens kann man direkt gegenüber in einem kleinen, gemütlichen Lokal köstlich speisen! 🍜✨

Und wer seine Umgebung aufmerksam betrachtet – eine Umgebung, die von gewaltigen Schreinen und Tempeln gesäumt ist –, entdeckt inmitten der Stille jene verborgenen Orte, die in ihrer Unscheinbarkeit eine noch tiefere Ruhe ausstrahlen.

Kurzfilm

Sieh dir mein kleines Abeneuer in einem Kurzfilm an.

Video by Gino Dola
Music by Oleksii Holubiev from Pixabay

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert