Neue Wege
Neue Wege

Neue Wege

Lesedauer 6 Minuten

Leben im Schatten des Skytree

Manchmal fühlt sich ein Umzug an wie eine Reise in ein anderes Universum. Ein Abschied von einer vertrauten Welt, ein Schritt ins Unbekannte. Heute war genau so ein Tag.

Von meinem weitläufigen Zuhause in Hamura, umgeben von Natur, Stille und offenen Räumen, hinein in ein 15-Quadratmeter-Zimmer mitten in der Metropole – ein winziges Nest, das jetzt mein neues Zuhause ist. Doch was ihm an Größe fehlt, macht es mit seiner Lage wieder wett: Ich bin nur 900 Meter vom Tōkyō Skytree entfernt, meinem absoluten Lieblingsturm.

Jeden Tag werde ich ihn sehen, direkt vor meiner Tür, hoch aufragend über das dichte Stadtbild.

Doch der Weg hierher war alles andere als leicht.


Tōkyō in flüssigem Glas

Der Himmel öffnete sich, als wollte er meinen Abschied aus Hamura mit einer dramatischen Kulisse begleiten. Seit Stunden regnete es unaufhörlich – kein sanfter Frühlingsregen, sondern ein stürmisches Prasseln, das die Straßen in spiegelnde Seen verwandelte. Die Wolkenkratzer der Stadt schienen wie in flüssigen Honig getaucht, ihre Lichter zitternd in den glänzenden Pfützen reflektiert. Ein grauer Vorhang aus Regen hängt über Tōkyō, doch anstatt alles zu verbergen, verleiht er der Stadt eine surreale, fast poetische Schönheit.

Ich liebe den Regen. Sein monotones Trommeln auf Asphalt, Blechdächern und Fensterscheiben ist eines der beruhigendsten Geräusche, die ich kenne. Doch heute hätte ich mir vielleicht doch eine kurze Pause gewünscht. Voll beladen mit Koffern, einem Rucksack und durchnässter Kleidung durch die Stadt zu ziehen, war eine kleine Herausforderung. Viermal musste ich umsteigen, während das Wasser in meine Schuhe sickerte und meine Sachen aussahen, als wäre ich samt Kleidung ond Koffer schwimmen gewesen. Jeder Schritt fühlte sich schwerer an, doch gleichzeitig beflügelte mich eine seltsame Aufregung.

Ein neues Kapitel hat begonnen – und es begann im Regen.


Ein Sprung in eine andere Welt

Der Unterschied zwischen meinem alten Zuhause und meinem neuen könnte nicht größer sein. Noch vor wenigen Stunden stand ich in einem ruhigen Viertel, umgeben von weiten Flächen, grünen Parks und der frischen Luft am Tamagawa-Fluss. Nun bin ich mitten in Tōkyō, in Sumida, zwischen hohen Gebäuden, leuchtenden Reklamen und dem unaufhörlichen Rauschen der Stadt. Hier gibt es keine Stille, keine Dunkelheit – nur das pulsierende Leben, das nie zur Ruhe kommt.

Mein altes 100 Quadratmter Haus habe ich gegen mein winziges neues Nest getauscht. 15 Quadratmeter – kaum genug Platz, um sich richtig auszubreiten. Und doch fühlt es sich richtig an.

Ich bin angekommen. Ich bin genau dort, wo ich sein wollte.

Mein Magen knurrt – den ganzen Tag habe ich nichts gegessen. Die Erschöpfung zieht an meinen Gliedern, doch mein Kopf ist noch hellwach. Morgen steht ein wichtiger Tag bevor: der Termin bei der Einwanderungsbehörde. Ich muss meinen Antrag auf Visumsverlängerung stellen, doch Unsicherheit mischt sich in meine Gedanken. Welche Dokumente brauche ich? Wird alles reibungslos ablaufen? Und wie soll ich eine Flugumbuchungsbestätigung vorlegen, wenn ich gar nicht weiß, ob mein Visum verlängert wird? Ich werde ja nicht ins blaue hinein, meinen Flug canceln und umbuchen, ohne zu wissen ob mein Visum überhaupt verlängert wird.

Fragen kreisen in meinem Kopf, doch meine Müdigkeit ist heute stärker.


Symphonie aus Tropfen

Mein Blick bleibt am Fenster hängen. Draußen glänzt die Stadt, getaucht in das sanfte Schimmern des Regens. Das Licht der Laternen spiegelt sich auf dem nassen Asphalt, während Tropfen von den Hochhäusern herabstürzen wie kleine Kometen, die letzlich in den Pfützen vor meinen Füßen zerplatzen.

Zwischen den gigantischen Wolkenkratzern stehen die alten Holzhäuser, die engen Gassen mit ihren Vordach-Konstruktionen aus Stahl und Kunststoff. Der Regen trommelt darauf, in unregelmäßigen Rhythmen, als spiele die Stadt eine Melodie nur für sich selbst.

Ich möchte hinaus. Ich möchte den Regen auf meiner Haut spüren, die Frische in meinen Lungen fühlen, das Prasseln direkt auf meinen Handflächen hören. Tōkyō im Regen ist anders – lebendiger, intensiver. Die Straßen wirken wie aus Glas, das Licht bricht sich in tausend kleinen Reflexionen. Es ist ein Moment, der die Stadt in eine vollkommen neue Szenerie taucht – ein Kunstwerk, das sich nur im Regen zeigt. Und ein Kunstwerk, das ich nur hier als solches empfinde, wenngleich ich jeden Ort der Welt im Regen wunderbar finde.

Ein neues Kapitel hat begonnen.

Morgen wird ein wichtiger Tag aber jetzt – jetzt gehört dieser Moment nur mir.


Vergangenheit in der Zukunft

Meine Gedanken kreisen unaufhörlich um das Morgen – den Termin bei der Behörde, die Tage, die darauf folgen, all das, was ich noch erleben werde. Ich frage mich, wie oft ich wohl jede Woche den Skytree besuche und jedes Mal aufs Neue den Eintritt bezahle, nur um die atemberaubende Aussicht und das überteuerte Curry in 400 Metern Höhe zu genießen.

Doch noch viel öfter kehren meine Gedanken zurück zu all dem, was bereits hinter mir liegt. Die wohl aufregendsten zwei Monate meines Lebens sind bereits vergangen. Alleine am fast anderen Ende der Welt, jeder einzelne Tag zog mich weit aus meiner Komfortzone hinaus, und der morgige wird all das noch in den Schatten stellen. Und während ich mich dieser Gedanken hingebe, stelle ich mir eine Frage – eine Frage, die ich mir ganz ehrlich beantworten möchte:

War es all das Wert?

Ja. Keine Sekunde meines Traums möchte ich jemals gegen etwas anderes eintauschen. Alles, was ich dafür getan habe, was ich aufgegeben und durchgestanden habe – all das war es mehr als wert. Ich habe das große Glück, hier zu sein, in einem Land, von dem ich immer geträumt habe. Und ich weiß, dass es der Traum vieler Menschen ist. Ich weiß auch, dass viele von ihnen noch lange auf die Erfüllung ihres Traumes warten werden, oder dass er vielleicht nie wahr wird. Ich bin unendlich dankbar für jeden Atemzug, den ich hier in Japan machen durfte und noch machen darf, und ich weiß all das sehr zu schätzen. Auch wenn es nicht in meiner Natur liegt, solche Worte zu finden – ich bin stolz.

Ich bin stolz darauf, dass sich all die Mühen und die ganze Vorbereitung schließlich ausgezahlt haben. Stolz darauf, dass ich meinem Traum nicht hinterhergelaufen bin, sondern ihn tatsächlich lebe. Und ich kann jetzt schon sagen: Meine Träume sind noch viel größer geworden! Es mögen bis jetzt nur zwei Monate gewesen sein, doch was es bedeutet, sein ganzes Leben, seine Freunde und Familie – einfach alles, was man kennt – wortwörtlich zurückzulassen und an einem fremden Ort neu zu beginnen, das verändert einen. Und auch wenn die Zeit nicht ewig ist, hinterlässt dieser Schritt Spuren. Besonders, wenn man einen solchen Traum allein lebt und erlebt. Selbst einzelne Tage haben die Kraft, alles zu verändern. Und ich weiß nun mit jeder Faser meines Seins:

Mein Herz gehört genau hierhin.


Der süße Teil

Du wartest sicherlich auf den süßen Teil des heutigen Tages, der bei eiem Umzug immer dazugehört. Auch wenn dieser Moment heute nicht so tiefgründig war wie die vorherigen, bleibt er dennoch ein schöner Augenblick. Das Haus in Hamura habe ich gestern schon geputzt und – wie immer, wenn ich irgendwo wohne – hinterlasse ich es besser, als ich es vorgefunden habe. Und zugegebenermaßen war das in Hamura nicht ganz so einfach, denn es war bereits nahezu perfekt. Dennoch habe ich mein Bestes gegeben, um auch hier in guter Erinnerung bei meinen Vermietern zu bleiben. Leider wohnen sie nicht in der Nähe, sodass ich ihnen außer einem blitzblanken Haus, in dem ich alles, was ich verbraucht habe, wieder über das Soll hinaus aufgefüllt habe, nur herzliche Worte schenken konnte – und im Gegenzug Wärme zurückerhielt.

Auf dem Weg in das Herz von Tōkyō meldete sich mein neuer Vermieter per Messenger. Der Schlüssel war zum Abholen bereit, und in der Wohnung würde bereits Bier auf mich warten. Ich musste schmunzeln, hatte ich doch nach der Tortur des Weges daran gedacht, dass ich alles später – wenn dieser Moment endlich überwunden ist – mit einem Bier feiern würde.

Es sind die kleinen Gesten, die mir hier immer wieder ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert