Zwischen Kabeln und Kultur
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Lesedauer 7 Minuten

Japans Strommasten im Wandel

Wer durch Japan streift – durch seine Städte, Vororte oder ländliche Gegenden – kann ihnen kaum entkommen. Überall säumen Strommasten die Straßen. Die starren Betonnadeln mit ihrem scheinbar chaotischen Gewirr aus Kabeln durchschneiden die Luft und prägen so das Bild eines ganzen Landes. Während diese Oberleitungen aus westlicher Sicht oft als störend oder unordentlich gelten, sind sie für viele Japan-Fans und auch für viele Einheimische ein unverzichtbarer Teil der japanischen Stadtsilhouette – ein visuelles Markenzeichen zwischen Technik und Tradition. Auch ich bin regelrecht süchtig nach ihnen und habe sie hunderte, wenn nicht tausende Male bestaunt und auf Fotos festgehalten. Diese starren Linien, denen meine Augen kaum entgehen können, erscheinen mir fast romantisch, ja sogar magisch – und wahrscheinlich geht es auch vielen anderen so.

Es gibt jedoch auch viele Menschen, die diese Leidenschaft für die Betonstriche nicht teilen und das Stadtbild deshalb als gestört empfinden – insbesondere an kulturell und historisch bedeutsamen Orten. Aus diesem Grund werden immer mehr oberirdische Leitungen, und mit ihnen die Strommasten, an solchen Stellen zunehmend aus dem Stadtbild entfernt.

Doch warum gibt es sie überhaupt? Und warum hält Japan an diesen oberirdischen Stromleitungen fest, obwohl andere Länder längst auf unterirdische Netze setzen, die den Erdboden wie Milliarden Schlagadern durchziehen?

Wenn du jetzt denkst

Wie viel kann man schon über Strommasten sagen?
Überraschung! Es ist mehr als du ahnst. Und irgendwie auch ein bisschen schön.

Wie alles begann

Die Wurzeln des oberirdischen Stromnetzes Japans reichen bis in die frühe Nachkriegszeit zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Japans fast gänzlich zerstörte Infrastruktur schnell – vor allem schnell – und kostengünstig wiederaufgebaut werden. Oberirdische Stromleitungen ließen sich rasch errichten – viel schneller und günstiger als unterirdische Alternativen. So begann ein flächendeckender Ausbau, der Japan rasch elektrifizierte, aber auch das Stadtbild bis heute prägen sollte.

Die ersten Versuche, dieses Kabel-Gewirr unter die Erde zu verlegen, reichen dabei bis ins Jahr 1911 zurück, als Sumitomo Electric entsprechende Systeme entwickelte. Doch der Masseneinsatz blieb aus – die Technik war teuer, aufwendig, und der Fokus lag klar auf (Kosten-)Effizienz.

Der Sicherheitsaspekt

Es dürfte niemandem entgangen sein, dass Japans besondere geographische Lage, gleich auf mehreren tektonischen Platten zu ruhen, dieses wunderschöne Stück Erde zu einem der erdbebenreichsten der Welt macht. In diesem Kontext galten und gelten oberirdische Stromleitungen lange Zeit als die bessere Lösung. Nach einem Erdbeben lassen sie sich einfacher inspizieren und deutlich schneller reparieren als unterirdische Leitungen, die dazu erst mühsam freigelegt werden müssen.

Gleichzeitig haben große Katastrophen wie das Hanshin-Erdbeben 1995, die Tōhoku-Katastrophe 2011 oder der Taifun Faxai 2019 auch die Schwächen offenbart. So robust die Nadeln aus Beton auch gebaut sind, sie halten nicht jeder Erschütterung und auch nicht jeder Windstärke stand. Beim Umknicken blockieren sie Straßen, versperren so wertvolle Flucht- und Rettungswege und können gerade für Menschen, die im Freien bei einem Erdbeben Schutz suchen, lebensgefährlich werden. Die tonnenschweren Säulen können Menschen erschlagen, den materiellen Schaden in die Höhe treiben, wenn sie auf Autos oder in Gebäude fallen und nicht zuletzt stellen die gerissenen Stromleitungen selbst eine enorme Gefahr dar. Im Fall von Taifun Faxai fielen in der Präfektur Chiba zeitweise fast eine Million Haushalte dem Stromausfall zum Opfer – über mehrere Tage ohne Strom zu überleben, ist in der heutigen Welt und bei hohen Temperaturen wie sie in der Taifun-Zeit vorkommen fast unmöglich.

Sugoi-chan

Fakten: Moderne Strommasten (sog. PC Masten, prestressed concrete poles) verfügen über eine zusätzliche Stahlhülle die spröde Brüche im Erdbebenfall verhindern soll.

Warum gibt es sie heute noch?

Trotz all dieser Risiken, dominiert auch im 21. Jahrhundert in weiten Teilen Japans das oberirdische Stromnetz – und das hat neben der historischen Entwicklung vor allem finanzielle Gründe. Der Bau unterirdischer Leitungen ist extrem teuer. Rund 500 Millionen Yen (etwa 3–5 Millionen Euro) kostet ein einziger Kilometer. Selbst mit vereinfachten Verfahren liegt man noch bei ca. 200 Millionen Yen pro Kilometer – Summen, die vor allem kleinere Kommunen nur schwer stemmen können.

So liegt der Anteil unterirdisch verlegter Leitungen in den 23 Bezirken Tokyos heute gerade einmal bei rund 7–8%, in Osaka sogar nur bei 5%. Im Vergleich dazu sind Städte die historisch gesehen ein ähnliches Stadtbild hatten, nahezu vollständig unterirdisch versorgt.

Ein weiterer Grund für ihre anhaltende Präsenz: Strommasten werden in Japan multifunktional genutzt. Sie dienen nicht nur dem Transport elektrischer Energie, sondern auch als Wegmarken, tragen Straßenlaternen und geben Orientierung im dichten urbanen Raum. Dadurch entfallen zusätzliche Masten – etwa für Beleuchtung – die wiederum Platz einnehmen und bei Erdbeben zusätzliche Gefahren darstellen könnten. Nicht nur Stromleitungen kreuzen sich über unseren Köpfen, sondern auch die Adern unseres modernen Lebens: Internet, Telefon und andere Datenverbindungen verdrahten sich dort oben zu einem wirren Netz aus Informationen, Technik und Alltagsinfrastruktur.

Sugoi-chan

Wer stellt sowas überhaupt her? Firmen wie die Mitani Sekisan Co. Ltd. oder Nippon Concrete Industries Co. Ltd. (kurz NCIC) haben sich unter anderem auf die Herstellung dieser Masten spezialisiert.

Politischer Wandel?

Doch allen Herausforderungen zum Trotz gibt es seit einigen und auch ganz aktuell (Stand Juli 2025) wieder Bewegung bei diesem Thema. Die japanische Regierung plant, bis 2030 etwa 21.800 Kilometer Stromleitungen entlang sogenannter „Disaster-Relief-Routes“ – also besonders wichtiger Notfallstraßen – unterirdisch zu verlegen. Diese Maßnahmen dienen der Katastrophenvorsorge und sollen verhindern, dass Rettungskräfte bei einem Erdbeben oder Taifun durch umgestürzte Masten behindert oder gar durch Schäden bei Nachbeben verletzt werden.

Bis Ende 2024 waren allerdings erst rund 35 % der geplanten Abschnitte abgeschlossen. Eng bebaute Straßen, hohe Baukosten und lange Planungsphasen machen die Umsetzung weiterhin schwierig. Dennoch ist klar, der politische Wille ist da – und die Modernisierung des Stromnetzes nimmt langsam Fahrt auf.

Das kulturelle Motiv

Einer der vielleicht interessantesten Aspekte, und vielleicht auch der, der den Druck – zumindest aus Sicht der Gesellschaft – aus den Umbaumaßnahmen nimmt, ist ein ganz anderer. Strommasten sind längst mehr als starre und hässliche Betonsäulen am Straßenrand, mehr als nur die Halterung für Kabel und viel mehr als bloß Infrastruktur – sie sind ein kulturelles Motiv. Sie prägen das Stadtbild nicht nur faktisch, sondern emotional und haben sich tief in die ästhetische und kulturelle Wahrnehmung eingeschrieben. Für viele stehen sie für das echte urbane Japan, für den Alltag jenseits von Tempeln, Kirschblüten und Geisha-Klischees.

Für viele Japanerinnen und Japaner, Reisende und echte Japan- und Anime-Fans gehören diese oberirdischen Stromleitungen zum unverwechselbaren Flair des Landes. In der Abenddämmerung, wenn das Licht an den Kabeln spielt, wenn Grillen zirpen und der Asphalt noch warm ist, entsteht ein Gefühl, das schwer in Worte zu fassen ist – eine Mischung aus Melancholie, Alltag, Nostalgie und tiefer Sehnsucht nach dem Moment, in dem man sich eigentlich gerade befindet. Es ist auf jeden Fall ein Gefühl, das so nur in Japan existiert.

Auch in der Popkultur sind Strommasten längst angekommen. In Anime wie 5 Centimeters per Second, Clannad, Your Name oder Anohana tauchen sie immer wieder auf – oft nicht als bloße Kulisse, sondern als atmosphärisches und detailreiches Element. Sie stehen für Jugend, Veränderung, stille Beobachtung. Selbst Fotobände, Mangas und Visual Novels greifen diese Ästhetik immer wieder auf. Sie gehören sie einfach dazu.

Es gibt sogar eine kleine Community, die sich ganz der Dokumentation von Strommasten widmet – mit Blogs, Instagram-Seiten oder YouTube-Kanälen. In gewisser Weise sind Japans Strommasten also nicht nur längst Kulturgut geworden, sie sind Kult.

Romantik in Beton

Strommasten sind in Japan auch sozial aufgeladen. Nicht nur in vielen Anime treffen sich Charaktere unter ihnen, um Geständnisse zu machen, Gespräche zu führen oder einfach nur gemeinsam zu schweigen – sondern auch in der Realität. Sie werden zu Orten der Intimität im urbanen Raum. Das Motiv passt zur japanischen Liebe, steht für das Unaufdringliche, das Alltägliche, das Unvollkommene – Wabi-Sabi in Stahl und Beton.

Gerade für Japan-Fans ist das Bild eines Strommasts im goldenen Abendlicht zu einer romantischen Ikone geworden. Es steht für ein Lebensgefühl – melancholisch, ehrlich, sanft.

Sugoi-chan

Übrigens: So ein Betonmast ist in der Regel 15m hoch, es gibt sie aber auch mit einer Höhe von 8-12m und sogar als Sonderausführung bis 30m und darüber. So eine Säule wiegt dann gerne mal 600 Kilogram bis 2 Tonnen.

Zwischen Moderne und Identität

Der Wandel hin zur unterirdischen Stromversorgung ist klar notwendig. Aus Sicherheits-, Platz- und manch einer behauptet auch, aus Designgründen. Doch gleichzeitig bedeutet er auch den Verlust eines visuellen und kulturellen Elements, das für viele Menschen zu Japan dazugehört wie Konbini, Bahnübergänge und Vending Machines.

Vielleicht liegt gerade darin der Reiz dieser Masten: Sie sind nicht schön im klassischen Sinne, aber sie erzählen Geschichten. Von Pragmatismus und Katastrophenschutz, von Urbanität und Chaos, von Technik und Poesie. Und sie zeigen, dass es in Japan oft die unscheinbaren Dinge sind, die besonders tief unter die Oberfläche gehen.

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