Seit fast einem Monat lebe ich nun in Japan. Die ersten Wochen fühlten sich an wie ein nie endender Urlaub – geprägt von Euphorie und der unermüdlichen Neugier, alles Neue zu entdecken. Doch allmählich beginnt mein Kopf zu begreifen: Das hier ist nicht nur ein kurzer Urlaub – es ist mein Leben. Und mit dieser Erkenntnis hält der Alltag Einzug. Doch dieser Alltag ist anders als der, den ich aus Deutschland kenne. Er formt sich neu, mit anderen Strukturen, anderen Rhythmen und Erlebnissen. Und er verändert mich.
Es hat tatsächlich fast drei Wochen gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich nicht dauerhaft mit nur vier Stunden Schlaf auskommen kann. Anfangs wollte ich jede freie Minute nutzen, um meine Umgebung zu erkunden, als hätte ich nur eine begrenzte Zeit dafür. Doch irgendwann setzte die Realität ein – ich bin nicht im Urlaub, sondern lebe hier – und da gehört ein Alltag nun einmal dazu. Mein Arbeitsrhythmus unterscheidet sich dabei stark von dem in Deutschland. Zwar arbeite ich weiterhin größtenteils nach deutschen Zeiten, aber aus einer völlig neuen Perspektive: Mein Tag beginnt entspannt, oft mit einem Spaziergang durch die verwinkelten Straßen von Kawagoe, während meine Arbeit erst am Nachmittag gegen 16 Uhr startet und bis spät in die Nacht dauert.
Eine der bemerkenswertesten Veränderungen betrifft meine körperliche Aktivität. Die Wege in Japan sind lang, oft finde ich mich wieder, wie ich einfach loslaufe – Kilometer um Kilometer, getrieben von der Neugier, was hinter der nächsten Ecke wartet. Hier ist tatsächlich der Weg mein Ziel. Am Ende eines Tages zeigt meine Smartwatch oft über 20 Kilometer an. Diese Bewegung, gepaart mit der anderen Ernährung und der neuen Lebensweise, hat auch meinem Körper gutgetan. Ich habe Gewicht verloren, fühle mich leichter, energiegeladener. Mein Spiegelbild erscheint mir vertrauter und doch verändert – ich gefalle mir besser als zuvor und spüre den Wunsch, weiter an mir zu arbeiten.
Doch die größte Veränderung spüre ich in meinem Inneren. Seit Wochen habe ich nicht ein einziges Mal Gereiztheit verspürt, und Kopfschmerzen, die mich in Deutschland regelmäßig begleitet haben, sind völlig aus meinem Leben verschwunden. Es klingt fast surreal, während ich diese Worte schreibe, aber es fühlt sich an, als würde meine Seele langsam heilen. Die unzähligen Risse und Narben, die sich über die Jahre angesammelt haben, beginnen sich von selbst zu schließen. Mein kreativer Geist, der nach all der anfänglichen Aufregung etwas in den Hintergrund getreten war, kehrt nun mit voller Kraft zurück. Ich erlebe kein „Kreatief“ mehr, sondern ein regelrechtes Hoch. Die allgegenwärtige Anspannung, die mich in Deutschland begleitet hat – und ich meine damit keinen Termindruck, sondern diesen unterschwelligen, schwer zu greifenden Druck – ist wie verflogen. Ich bin innerlich zur Ruhe gekommen, trotz der täglichen neuen Eindrücke und Erlebnisse.
Diese neu gewonnene Gelassenheit verändert mich tiefgreifend. Schon nach dieser kurzen Zeit bin ich nicht mehr ganz der Mensch, der ich noch vor einem Monat war. Aber diese Veränderung geschieht nicht, weil ich sie aktiv herbeigeführt habe, sondern weil sie sich ganz natürlich entfaltet – mein neues Leben formt mich. Es ist, als hätte ich endlich den Raum gefunden, um wirklich durchzuatmen. Und dieser Atem ist tiefer, freier und unbeschwerter als je zuvor.
Doch neben all den schönen Veränderungen vermisse ich auch meine Familie und meine Freunde. Ich bin es zwar gewohnt, viel Zeit alleine zu verbringen, und die meiste Zeit genieße ich es sogar – mein Kopf ist voller Ideen, die umgesetzt, geschrieben oder erlebt werden wollen. Doch auch unter Millionen von Menschen kann man in Japan mit Leichtigkeit allein bleiben, fast schon vereinsamen. Einen großen Anteil an dieser Tatsache hat sicherlich die Sprachbarriere, die ich nun aktiv überwinden möchte. Deshalb habe ich beschlossen, mit dem JLPT N5 zu beginnen und diesen spätestens bis zu meinem Geburtstag 2026 erfolgreich abzulegen. Mein Japanisch reicht aus, um meinen Alltag zu meistern, Essen zu bestellen oder einige einfache Texte zu lesen. Doch um tiefere Gespräche zu führen oder gar Freundschaften zu knüpfen, reicht es leider noch nicht.
Ich habe hier bereits einige Menschen in Tōkyō kennengelernt, die ich sehr mag, doch wir wohnen weit voneinander entfernt und haben unterschiedliche Arbeitszeiten. Es wäre schön, wenn ich die Sprache bereits besser sprechen und verstehen könnte – ich bin mir sicher, dann würde ich noch viel mehr Menschen kennenlernen und mein Leben hier noch intensiver gestalten können.
So habe ich nur wenige Wochen, nachdem ich das wohl bisher größte Ziel meines Lebens erreicht hatte und endlich einmal keine Punkte auf meiner Lebens-Aufgaben-Liste stehen hatte, genau diese wieder mit neuen Aufgaben gefüllt – die es jetzt zu erreichen gilt. Alles andere hätte mich auch wirklich gewundert.
LOVELESS fühlt es sich für mich hier in Japan jedenfalls nicht an – ganz im Gegenteil. Auch wenn ich momentan auf all die Menschen verzichten muss, die ich liebe und die hoffentlich auch mich lieben 😉 – ist meine Liebe zu Japan und die „Liebe“, die mir Japan gibt, alles andere als LOVELESS.
Wunderbar Gino, einfach toll. Das hast Du sowas von verdient, endlich geht es Dir so richtig gut. Du hast es ja immer schon geahnt, Japan heilt Dich, macht Dich komplett und noch stärker. Ich freue mich, man sieht Dir allerdings diese Ruhe und dieses Glück auch an. Und natürlich hast Du ein neues Ziel, klar doch 🙂 Und Du wirst auch das wieder erreichen und mit Bravour meistern. Dafür wünsche ich Dir ganz viel Freude, Glück und erhellende Momente. Danke, dass Du uns an Deiner Wunderreise teilhaben lässt.
<3 <3 <3 Dankeschön, für deine warmen Worte. Ja ich hoffe doch sehr, dass ich dieses Ziel auch erreiche. Ich weiß noch nicht ganz genau, wie ich das Ziel erreiche und wovon ich das ermögliche - aber das ist bis auf weiteres ein Zukunftsproblem, das ich noch ein paar Wochen aufschiebe - hihi. Das wird schon werden, wie immer alles "schon wird".
Das Leben läuft ohne Pause, weit entfernt und doch zu Hause. Geht die Entwicklung voran oder zum Selbst zurück? Ist beides möglich – in einem Stück? Ist das Fremde da draußen oder ist es in mir? Vergessen wir mal kurz die philosophischen Fragen bei Sake und Bier! Lass es Dir gut gehen, Du rockst das. <3
Ich möchte deine philosophischen Fragen versuchen, zu beantworten. Zuhause ist doch immer genau da, wo es sich nsch Zuhause anfühlt, ganz gleich an welchem Ort man ist. Natürlich geht die Entwicklung zurück zum eigenen Selbst und genau dadurch geht es voran. Auch die nächste Frage ist auf jeden Fall ein klares: Ja! Das Fremde ist in mir, es hätte mich sonst niemals soweit fort getragen. Doch das Fremde wollte mehr, es wollte wirklich in die Fremde, in die weite Welt. Ist fremd und fremd noch fremd? Oder sind wir etwa nun Zuhause? Vielen Dank für deine Worte, ich freue mich auf den Moment, an dem wir zusammen wieder Bier und Sake trinken.
Japan als Kurort, wer hätte das gedacht. Es wäre so einfach gewesen, dir die lang ersehnte Heilung zu ermöglichen, wenn man Japan ärztlich verschreiben lassen könnte 😛
„Herr Dola, Sie brauchen eine Auszeit. Ich verschreiben Ihnen lebenslang Japan“
Und ja, auch wir vermissen dich hier 😉 Auch wenn wir uns im Jahr so oft gesehen haben, dass es an einer Hand abzuzählen ist, ist es doch irgendwie anders, dich so weit weg zu wissen.
Aber ich hoffe, dass dein Traum, für immer in Nippon bleiben zu können irgendwann Wirklichkeit wird. Bisher hast du vieles erreicht, was du dir vorgenommen hast.
Lebenslang Japan per Rezept quasi – das würde mir gefallen. Aber irgendwie wäre das auch zu einfach, wo bleibt da die Herausforderung ^^ ich brauch immer ein bisschen Nervenkitzel bei allem.