Oku-Tama 奥多摩
Oku-Tama 奥多摩

Oku-Tama 奥多摩

Lesedauer 8 Minuten

Heute ist nicht nur irgendein Sonntag, sondern der Geburtstag des Tennō, Naruhito. Er wurde am 23. Februar 1960 geboren und feiert heute seinen 64. Geburtstag. Aufgrund dieses Feiertags waren viele Geschäfte, die sonst sonntags geöffnet haben, geschlossen. Da jedoch viele Menschen am Sonntag ohnehin frei haben, wird der eigentliche Feiertag auf den morgigen Montag verschoben – ein verlängertes Wochenende also.

Ich habe mich heute in die Berge von Oku-Tama begeben. Von Hamura aus ist das nur etwas mehr als eine Stunde mit der Ōme-Linie entfernt, und doch fühlte es sich an, als wäre ich in einer völlig anderen Welt gelandet – wieder einmal. Als ich am Bahnhof Oku-Tama aus dem Zug stieg, war ich so überwältigt von der Szenerie, dass mir kurzzeitig die Luft wegblieb. Die bewaldeten Berge waren nicht nur beeindruckend – sie waren a-tem-be-rau-bend. Egal in welche Himmelsrichtung ich blickte, überall erstreckten sich majestätische Gipfel. Es war ein Anblick, den weder Worte noch Fotos wirklich einfangen können. Das Gefühl, das es in mir auslöste, war reiner Entdeckerdrang.

Mein Plan war einfach: mit dem Zug nach Oku-Tama fahren und entlang des Flusses zurück nach Hamura wandern – über 25 Kilometer zu Fuß. Ein Zwischenstopp war geplant, denn auf dem Weg lag ein kleiner, alter Fuß-Onsen. Doch wie so oft kam es anders.

Auf dem Weg zum Onsen begegnete ich einer Gruppe Affen, die einfach so auf der Straße herumlungerten. Manche sonnten sich, andere suchten in einem Hauseingang Schutz vor dem eisigen Wind. Ein Erlebnis für sich! Der Onsen hingegen war kein Erlebnis, er hatte geschlossen – hoffentlich nur wegen des Feiertags. Doch vor Ort sah es eher nach einer längeren Schließung aus. Ich werde in ein paar Tagen noch einmal vorbeischauen, um Gewissheit zu haben.

Es war letztlich eine Brücke, die meinen Weg durchkreuzte – buchstäblich. Ich kann einfach nicht anders, als jede nur erdenkliche Brücke zu überqueren. Genau wie Türme liebe ich Brücken, besonders jene, die sich über tiefe Schluchten spannen und entlegene Orte miteinander verbinden. Wenn der Wind sich in ihnen verfängt und sie sanft erzittern, ist das Gefühl einfach unbeschreiblich. Also überquerte ich diese Brücke, trat auf die andere, unbekannte Seite – und folgte spontan einem Pfad, der abenteuerlich wirkte und schier endlos erschien. Und das war er tatsächlich – vielleicht nicht endlos aber zumindest so viele Kilometer lang, dass ich ihn heute nicht bis zu seinem Ende gegangen bin.

Er führte mich entlang des Flusses, über kleine hölzerne Brücken, an schmalen, in den Hang gehauenen Pfaden vorbei. Es ging auf und ab. Immer wieder kreuzten umgestürzte Baumstämme und massive Felsbrocken meinen Weg. Einige hatten alte Geländer völlig deformiert oder aus ihrer Verankerung gerissen. Die Treppen wechselten zwischen Holz und Stein – der gesamte Pfad war ein einziges Abenteuer. Ich wusste nicht, wohin er mich führen würde, und genau das machte es noch aufregender. Es war dieser Funke von Angst – oder eher Respekt vor der Natur –, der mich begleitete. Rechts von mir erhob sich massives Gestein, links unter mir tobte der Fluss – einige Meter tiefer. Und ich? Dazwischen, auf einer schmalen Holzbrücke, kaum breiter als ich selbst.

Dann öffnete sich vor mir ein bizarrer Anblick: ein Meer aus Eiszapfen, armdick, unaufhörlich wachsend, genährt von eiskaltem Wasser, das durch feine Spalten im Gestein sickerte. Der Wind wurde stärker, die Luft eisig. Und plötzlich wurde es dunkel, ich stand in einem Tunnel, der in den Fels geschlagen war. Ich breitete die Arme aus wie ein Vogel, genoss den frostigen Luftzug, der in diesem Augenblick scheinbar nur für mich durch das Tal und diesen Tunnel strich. Kurz darauf begegnete ich einer Gruppe Reisender – Mönche, zweifellos. Die Männer trugen dunkel orangefarbene Gewänder, die Frauen weiße mit fliederfarbenen Akzenten. Wir passierten einander, ich grüßte und verbeugte mich. Und obwohl ich mich keiner Religion verbunden fühle, verspürte ich eine gewisse Ruhe in ihrer Gegenwart. Vielleicht war es Respekt oder stille Bewunderung für ihren gewählten Lebensweg.

Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr spüre ich eine tiefe Verbundenheit mit dem Shintō, auch wenn ich, wie gesagt, keiner Religion angehöre. Niemals zuvor – und doch gerade heute – fand ich mich immer wieder vor kleinen Schreinen wieder, an denen ich inne hielt, betete und meine Gedanken dem Fluss der Natur anvertraute. Auf meinem Weg entlang des Hangs begegneten mir immer wieder Jizō-Statuen, still und wachsam am Wegrand stehend. Aus einem inneren Impuls heraus brachte ich ihnen kleine Opfergaben dar, in der stillen Hoffnung, dass sie mich beschützen mögen – vielleicht vor einem Felsschlag, vielleicht vor Unsichtbarem, das nur die Götter kennen.

Auch die Natur um mich herum erzählte eine eigene Geschichte – von Wunden, die sie sich selbst zugefügt hatte. Jahrhundertealte Bäume waren von Stürmen entwurzelt worden, hatten Schneisen der Verwüstung hinterlassen. Felsbrocken, so groß wie Häuser, ruhten träge am Abgrund. Bambushaine wechselten sich mit Nadelwäldern ab, während kahle Bäume geduldig auf den Frühling warteten. Das Wasser des Flusses war so klar, dass ich den Grund erkennen konnte – ein Bett aus abermilliarden kleiner Kieselsteine, die still im Wasser schlummerten.

Plötzlich ein Geräusch. Stimmen! „写真を撮ってもらえますか?“ – „Hai“, antwortete ich und machte ein Foto von drei Jugendlichen, die vor der Kulisse der Berge posierten. Eine alltägliche Situation vielleicht, aber für mich ein kleiner, schöner Moment. Es freute mich, dass sie mich fragten, dass ich sie verstand und ihnen helfen konnte. Schließlich rannte ich eh schon den ganzen Tag mit meinem Handy herum, denn mein Gehirn war nach wenigen Stunden nicht mehr in der Lage, all die Eindrücke zu verarbeiten, die mir mein kleines Abenteuer bereits geboten hatte – so hielt ich jeden nur erdenklichen Moment auf einem Foto fest. Und ja, neben faszinierenden Städten liebe ich die Natur, besonders das Alleinsein – bis auf eine Handvoll Menschen, denen man begegnet. Doch es sind kurze, schöne Momente: ein Lachen auf beiden Seiten, eine Verbeugung, ein liebevoller Gruß.

ACHTUNG – HORNISSEN, SCHLANGEN UND BÄREN IN DIESEM GEBIET“ stand auf einem Schild, gleich in drei Sprachen, die Lettern so groß wie meine Hände. Habe ich zur Kenntnis genommen, dachte ich mir nur und setzte meinen Weg fort.

Die Pfade wurden immer unwegsamer, schmaler, kühler und dunkler. Sie führten an Abhängen vorbei, zwischen Felsen hindurch, die wirkten, als wären sie eben erst von irgendwoher herabgestürzt. Sie schienen hier fehl am Platz, als hätten sie nie dazugehört. Dann – ein Knirschen rechts von mir, als würde sich ein Tier durchs Unterholz bewegen. Doch da war nichts. Nur Felsen. Plötzlich rieselten kleine Kieselsteine vor meinen Augen auf den Pfad. Einfach so, aus dem Nichts. Mein Herz schlug hastig, meine Füße brachten mich schneller voran.

Endlich erreichte ich den Staudamm. Ich wusste nicht, wie viele Schritte, wie viele Kilometer oder Stufen ich an diesem Tag bereits zurückgelegt hatte – aber vor mir lagen weitere 200 Stufen. 13 Kilometer hatte ich bis hier hin geschafft. Die Sonne warf längst keine wärmenden Strahlen mehr auf die Erde, und meine Beine wollten mich nicht mehr weitertragen. Schon gestern hatten sie mich 17 Kilometer durch das Städtchen Hannō getragen. Also beschloss ich, den Weg an einem anderen Tag fortzusetzen. Die Stationen Kori, Kawai, Ōme und viele andere – sie würden auf mich warten. Ich bleibe gespannt, wie der weitere Weg verlaufen wird, entlang der Berge, vorbei an steilen Abhängen, über Stein und Wurzelwerk. Welche wundervollen Momente würden mich noch erwarten? Das wird sich zeigen.

Doch für heute sollte es genug sein. Ich machte mich auf den Rückweg zur nächstgelegenen Bahnstation. Gesagt, getan. Eine halbe Stunde verblieb mir noch, bis mein Zug kam, und ich nutzte den Moment, um einfach nur dazusitzen, nichts zu tun und den Blick über die Berge gleiten zu lassen. Der Himmel verwandelte sich in ein Spektakel aus Farben, als die Sonne immer tiefer sank. Ihre letzten Strahlen legten sich in den Horizont, als hätte sie schon immer genau dorthin gehört. Ich verlor mich in diesem Farbverlauf und fast hätte ich die Zeit vergessen – doch die Bahnhofsansage riss mich aus meinen Gedanken.

Ich eilte zum Bahnsteig – gerade noch rechtzeitig erreichte ich ihn. Die Türen des Zuges öffneten sich, und zu meiner Überraschung sah ich die Mönche wieder, die mir auf meiner Wanderroute begegnet waren. Wir blickten uns an – und mit uns gefühlt auch alle anderen. Denn wir erkannten uns, grüßten uns erneut und lachten. Ich setzte mich zu ihnen, doch wir schwiegen. Die Kälte und die unwegsamen Pfade hatten uns allen die Kräfte geraubt, uns ermüdet. Im Zug herrschte eine fast gespenstische Stille.

Aber die beheizte Polsterung der Sitze breitete sich wohltuend in meinem Körper aus, und während der Zug durch die Berge fuhr – durch genau jene Berge, in denen ich noch vor kurzem gewandert war –, ließ ich meine Gedanken dort zurück. Irgendwo zwischen Felsen, dem Wasser und den geheimnisvollen Pfaden.

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