Mein Herz blieb in Japan
Mein Herz blieb in Japan

Mein Herz blieb in Japan

Lesedauer 8 Minuten

Gedanken nach der Rückkehr

Es ist seltsam, wieder hier zu sein, die Tür fiel hinter mir zu, als ich ankam – zu Hause. Zurück in Deutschland – und doch fühlt sich nichts an wie „zuhause“. Mein Körper ist angekommen, ja – meine Koffer sind ausgepackt. Aber mein Herz… mein Herz scheint in Japan geblieben zu sein. Vielleicht irgendwo auf einem Bahnsteig in Oku-Tama. Oder in einem stillen Moment zwischen den Bäumen am Tama-Fluss oder irgendwo zwischen dem sanften Licht einer ruhigen Straße in Hamura und dem warmen Lächeln einer Verkäuferin in einem kleinen Konbini in Tōkyō.

Ich vermisse Japan. Nicht nur ein bisschen. Nicht wie ein Urlaub, den man gerne verlängert hätte. Sondern tief – mit jeder Faser meines Seins. Ich finde es schwer, das in Worte zu fassen. Diese seltsame Mischung aus Vertrautheit und Fremde, die mich seit meiner Rückkehr begleitet. Als würde ich mir einen alten Pullover überstreifen, der mir einst passte, nun aber zwickt an allen Nähten. Nichts fühlt sich mehr richtig an.

Früher war es einfach, durch Deutschland zu gehen. Ich kannte die Abläufe, die Wege, die Sprache und die Regeln. Doch heute ertappe ich mich dabei, wie ich nach den grünblauen Konbini-Schildern Ausschau halte. Wie ich mich wundere, dass der Supermarkt um die Ecke schon um 21 Uhr schließt. Und wenn ich an der Kasse stehe und der Blick der Kassiererin mir sagt: „Beeil dich, du störst“, dann sehne ich mich nach dem sanften, höflichen „Irasshaimase“, das mich in Japan an jedem noch so kleinen Geschäft begrüßte.

Der stille Schock

Ich wusste, dass es anders werden würde. Ich bin nicht naiv – ein bisschen vielleicht. Ich hatte mich vorbereitet, hatte Deutschland nicht verklärt. Aber was ich nicht erwartet hatte, war dieser Schock – dieses Gefühl, als wäre ich in einer Parallelwelt gelandet, die dieselbe Sprache spricht, aber in allem anderen so… anders ist.

Es war ein normaler Wochentag, nichts Besonderes – nur ein kurzer Abstecher in einen der großen Supermärkte, die ich früher immer als „gut sortiert“ empfunden hatte. Ich lief durch die Gänge, griff ganz automatisch zu den Dingen, die ich brauchte… und dann kam der Moment an der Kasse. Waschmittel, Zahnpasta, Duschgel – Kleinigkeiten des Alltags. Ein Einkauf, der in Japan vielleicht umgerechnet 1.000 Yen gekostet hätte, manchmal sogar weniger, je nachdem, wo man ist. Aber hier? Ich stand da, starrte auf den Kassenzettel – und war ehrlich gesagt sprachlos. Alles war teurer. Viel teurer. Und gleichzeitig… irgendwie weniger. Weniger Auswahl. Weniger Qualität. Weniger Liebe zum Detail.

Früher hätte ich das nie in Frage gestellt. Ich kannte es nicht anders. Aber jetzt… mit den Erinnerungen an die makellos geordneten Regale in Japan, an die riesige Auswahl selbst bei den einfachsten Dingen wie Reis, Spülmittel oder Tee… wirkt alles hier plötzlich so eingeschränkt. So seltsam, so unvollständig.

In Deutschland denken viele Menschen, dass sie in einem Land leben, das für alles eine riesige Auswahl bietet. Aber wenn man einmal gesehen hat, wie selbst ein kleiner Drugstore in Japan vier komplette Regalreihen nur für Zahnbürsten hat – alle in liebevollen Farben, mit kleinen Details, für jede Altersgruppe, für jede Zahnform – dann kann man das hier einfach nicht mehr ernst nehmen.

Und dann ist da der Service… oder sollte ich sagen Nicht-Service?!
Ich hatte mich in Japan daran gewöhnt, dass mir Menschen mit Respekt begegnen, ganz gleich, ob sie mir einen Kaffee in einem Konbini verkaufen oder ein Paket an der Poststelle überreichen. Nicht aufgesetzt freundlich – sondern echt. Jede Geste sagte: „Ich respektiere dich. Danke, dass du da bist.“

Hier in Deutschland?
Ich werde nicht mal angesehen. Oft kein Lächeln. Kein „Gerne“ oder „Bitte“. Manchmal nicht mal ein „Hallo“. Bereits 5 Minuten nach Ladenöffnung ist die Stimmung des Personals… naja, ich lasse das besser. Ich weiß, nicht jeder ist so – aber es ist erschreckend, wie selten es hier auffällt, wenn jemand einfach nur höflich ist, mir ein Lächeln entgegenblickt.

Ich vermisse es, nachts um 2 Uhr ein frisches Onigiri zu kaufen – überhaupt etwas um diese Uhrzeit zu kaufen. Ich vermisse die durchgängig geöffneten Drogerien an jeder Ecke. Ich vermisse die vielen Automaten, die rund um die Uhr bereitstehen, einem das Leben zu erleichtern, mit einem heißen oder kalten Getränk auf mich warten.

Doch vor allem vermisse ich das Gefühl, willkommen zu sein.
Nicht nur als Kunde – sondern als Mensch… im eigenen Land.

Deutschland ist einfach stehengeblieben.

Wenn ein Land farblos wirkt

Was mich aber am meisten trifft, ist das Gefühl, dass Deutschland farblos geworden ist – oder es vielleicht schon immer war?! Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Straßenränder, die verwahrlost wirken. Häuser, deren Fassaden mit ziellosen Schmierereien überzogen sind. Keine zarten Blümchen am Straßenrand, schon gar keine bunten. Keine liebevoll gepflegten Ecken. Und dann diese seltsame Liebe zur Sterilität: Vorgärten, die wie Millimeterarbeit aussehen, jedes Grashälmchen streng getrimmt, jeder Busch in Form gezwungen. Es wirkt nicht wie Ordnung – es wirkt wie Trostlosigkeit. Wie ein Ort, der das Leben lieber im Zaum hält, als es zu feiern.

Ich wusste nicht, wie sehr sich mein Blick verändert hatte. Wie sehr mich Japan geprägt hat. Nicht nur in meinem Denken oder Handeln – sondern in meinem Sehen. In der Art, wie ich Straßen betrachte. Fenster. Laternen. Haltestellen. Und dann war ich wieder hier. Zurück in Deutschland und ich sah es. Alles. Als wäre ein Schleier gefallen.

Die Straßen sind grau. Nicht nur farblich – sondern im Herzen. Der Asphalt ist rissig. Überall kleine Schlaglöcher. Pflastersteine, die sich heben, als wollten sie fliehen. Bushaltestellen, deren Scheiben nicht mehr durchsichtig sind, sondern milchig geworden vom Schmutz, von irgendwelchen Schmierereien, die jemand dort hinterlassen hat – wie ein stummes Zeichen von „Mir ist alles egal.“

Ich mag das Wort „Graffiti“ nicht. Es klingt nach Kunst. Aber das, was ich hier sehe, hat nichts mit Kunst zu tun. Es ist lieblos. Roh. Wütend. Und die Häuser? Fast jedes zweite wirkt, als hätte es seit Jahren keinen frischen Anstrich mehr gesehen. Fensterbänke, auf denen keine Blumen stehen. Höchstens ein Stück altes Zeitungspapier liegt im Hauseingang. Ich schaue mich um und sehe: Ordnung. Kontrolle. Und Leere.

In Japan habe ich gelernt, wie viel Liebe in kleinen Dingen stecken kann. Wie eine Kleinigkeit, die vielleicht 9 von 10 Menschen übersehen, etwas verändern kann. Ein winziger Blumenkübel an der Straßenecke. Ein Handtuch mit saisonalem Muster, das draußen zum Trocknen hängt. Ein alter Mann, der den Gehweg vor seinem Haus fegt, obwohl es niemand erwartet. Da war Leben. Da war Schönheit. Und Würde. Hier ist alles eingezäunt. Rasenflächen wirken wie militärische Zonen, exakt auf zwei Zentimeter getrimmt, als hätte der Rasenmäher einen Linealaufsatz. Kein Blatt zu viel. Keine Farbe zu bunt. Ordentlich, ja. Aber lebendig? Nein.

Ich habe oft das Gefühl, dass die Städte hier nicht für Menschen gebaut sind – sondern gegen sie. Als müsste man sich beweisen, bevor man sich willkommen fühlen darf. Ich vermisse die Farben, die kleinen Ecken mit Seele, die weichen Kanten. Und ich frage mich: War es immer schon so trostlos hier? Oder habe ich einfach gelernt, wie schön die Welt sein kann – wenn man sie mit offenen Augen gestaltet?

Wenn der Körper Nein sagt

Ich bin nun wirklich nicht dafür bekannt, ein Feinschmecker zu sein – oder besonders darauf zu achten, was ich mir täglich in die Futterluke stecke. Doch erneut wurde mir bewusst, wie sehr ich mich verändert habe. Nicht äußerlich – sondern von innen heraus.

Monate in Japan hatten mir nicht nur eine neue Sicht auf die Welt gegeben, sondern auch auf mich selbst. Auf meinen Körper. Auf meine Bedürfnisse. Auf das, was mir gut tut – und was nicht. Und als ich wieder in Deutschland war, spürte ich es fast sofort: Etwas stimmt nicht. Etwas ist anders. Ich esse, aber es sättigt mich nicht. Ich trinke, aber mein Körper bedankt sich nicht. Stattdessen: Schwere. Müdigkeit. Bauchschmerzen.

Ich war es nicht mehr gewohnt. Nicht mehr an all den versteckten Zucker in fast allem. Nicht an die Zusatzstoffe, die Zutatenlisten, die sich lesen wie kleine Chemiebücher. Mein Körper hatte sich entwöhnt und das völlig unbemerkt. Von all dem, was ich früher für normal hielt. Und das fiel mir nicht in einem großen Moment auf – sondern in vielen kleinen. Ein Brot, das sich irgendwie falsch anfühlt. Eine Fertigsuppe, nach der mir stundenlang übel ist. Ein Getränk, das mehr nach Sirup schmeckt als nach dem, was auf dem Etikett steht.

In Japan habe ich anders gegessen. Bewusster. Frischer. Leichter. Nicht perfekt – aber ausgewogen. Weil es einfach war, weil die Gegebenheiten eben so waren, dass es einfach war. Ich erinnere mich an meine selbstgemachten Onigiri am Morgen, an frisch gebrühten grünen Tee, an warme Bentos mit kleinen Portionen von allem. An dieses Gefühl nach dem Essen – nicht vollgestopft, sondern zufrieden.

Und jetzt? Ich habe angefangen, wieder Sushi zu machen. Jeden Tag. Nicht, weil ich mich nach Japan „spielen“ will – sondern weil mein Körper darum bittet. Ich kaufe möglichst wenig Verarbeitetes. Ich meide Zucker, der sich überall hineinschleicht. Und je mehr ich das tue, desto lauter wird die innere Stimme, die sagt: „Das hier in Deutschland bist du nicht mehr.“

Ich war nie jemand, der sich große Gedanken über die Ernährung gemacht hat. Ich habe gegessen, was da war – schnell, unkompliziert, möglichst preiswert und ohne großes Hinterfragen. Und ja, natürlich gibt es auch jetzt noch diese Tage, an denen ich eine Packung Kinderschokolade vernasche, als gäbe es kein Morgen. Aber etwas ist anders geworden. Seit ich zurück bin, spüre ich es – nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Körper; vor allem im Bauch.

Eine Art innere Reaktion auf Dinge, die ich früher nicht einmal wahrgenommen hätte. Das Essen fühlt sich schwerer an. Nicht seelisch – sondern körperlich. In Japan war das anders. Da war mein Körper voller Energie. Ausgeglichen. Jetzt sagt er mir leise, aber deutlich: Das tut mir nicht gut.

Japan hat mich verändert.
Nicht durch Verbote oder strenge Regeln. Sondern durch das Gegenteil: Durch das sanfte Wissen, dass mein Körper es verdient, gut behandelt zu werden. Und dass echtes Essen kein Luxus ist – sondern ein Ausdruck von Respekt. Gegenüber mir selbst. Und gegenüber dem Leben.

Getrennt von meinem Herz

Ja, ich bin zurück in Deutschland. Aber jeden Morgen wache ich auf und frage mich, ob ich nur geträumt habe. Ob mein Leben in Japan wirklich passiert ist – oder ob es nur ein wunderschöner Film war, der leider viel zu früh endete. Und niemand weiß, wann der zweite Teil herauskommt.

Doch dann denke ich an den Fluss in Hamura. An die sanfte Stimme aus dem Konbini. An das Licht, das zwischen den Gassen in Kawagoe durch die Blätter fällt. An all die wunderschönen Momente. Und ich weiß: Nein, das war echt. Und es war richtig.

Deutschland hat mir meine geliebten Menschen zurückgegeben, die ich vermisst habe. Und für sie bin ich dankbar. Aber abgesehen davon hält mich hier nichts mehr. Nicht die Städte. Nicht das System. Nicht das Grau. Und ich weiß: Ich werde gehen.

Nicht aus Trotz. Nicht aus Flucht. Sondern weil ich endlich weiß, wo mein Herz zuhause ist. Ich lerne weiter. Ich plane. Ich spare. Ich baue mir ein Fundament. Denn mein Leben gehört nicht mehr dem Ort, an dem ich geboren wurde – sondern dem Ort, an dem ich wirklich atmen kann. Dem Ort, der mir gezeigt hat, wie sich Zuhause anfühlen darf.

Japan, warte auf mich. Es ist nicht perfekt. Natürlich nicht.

Aber es ist der erste Ort in meinem Leben, an dem ich wirklich gespürt habe: Hier könnte ich ankommen.

3 Kommentare

  1. Rebecca

    Dieses Gefühl, im eigenen Land fremd zu sein. Dieses Grau, das sich nicht nur auf den Straßen, sondern auch auf der Seele breitmacht.
    Deutschland war mal anders. Freundlicher. Lebendiger. Wärmer. Heute fühlt es sich an, als würde es jeden Tag ein Stück mehr vergehen – farblos, kalt und abweisend.
    Deine Worte berühren, weil sie ehrlich sind. Und weil du den Mut hast, auszusprechen, was viele nur denken. Ich wünsche dir, dass du den Ort, an dem dein Herz geblieben ist, bald wiedersehen darfst – nicht nur für ein paar Monate, sondern für immer.

  2. Matthias Wagner

    Lieber Gino,
    Deine Texte sprechen mir aus der Seele. Ich habe über 25 Jahre das Land wegen enger beruflicher Verbindungen und nebenher zusammen mit meiner Frau in mehreren mehrwöchigen Urlauben zu verschiedenen Jahreszeiten von Okinawa bis Hokkaido bereist. Ja, Japan ist anstrengend. Aber wenn man einmal begriffen hat, wie dieses Land funktioniert und seine Bewohner ticken, wenn man erlebt hat, mit welcher Freundlichkeit, Wärme und Geduld man als (am Anfang) völlig hilfloser Gast aufgenommen wird, dann ist jede Anstrengung, selbst noch das Scheitern eines Vorhabens Balsam für die Seele. Und da reden wir noch nicht mal vom Essen… Wir haben uns wie Du unsterblich in dieses Land verliebt.
    Ein paar Tipps, vielleicht von Dir schon ‚abgearbeitet‘: Nikko, auch wenn es inzwischen touristisch geflutet ist. Kabuki in Tokyo: Nach der Vorstellung muss man sich erstmal eine Viertelstunde lang als ‚Aus-der-Zeit-Gefallener‘ in der Tokyo-er Gegenwart sortieren. Bunraku in Osaka: Es soll mir mal jemand beweisen, dass Bunraku-Puppen nicht aus Fleich und Blut sind und keine Seele haben. Sendai, einfach als Stadt. Aquarium in Osaka: Wir meinen, das schönste der Welt.

    Viele Grüße, Matthias

    1. Hallo Matthias, vielen lieben Dank für all deine Worte – das hat mich sehr gefreut zu lesen. Sendai ist wirklich wunderschön, die anderen Tipps nehme ich gerne nah an mein Herz für Teil 2, die Auswanderung oder Teil 1.5 vorher nochmal ein paar Monate dort leben und den Ort der Orte finden, wobei ich mir sicher bin, diesen Ort in Hamua bereits gefunden zu haben. Ich wünsche euch nur das allerbeste und Danke euch für die Tipps. Vielleicht… bis irgendwann mal in Japan. Beste Grüße Gino

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