In Japan gibt es das Konzept oder, besser gesagt, die Philosophie Wabi-Sabi (侘寂). Die Grundgedanken von Wabi-Sabi sind tief im Zen-Buddhismus verwurzelt. Wenn man es ganz genau – oder eben gerade nicht ganz genau nimmt, ist es jedoch weder ein Konzept noch eine Philosophie, sondern vielmehr eine Lebenseinstellung.
Werfen wir einen genaueren Blick auf dieses Wort, das wie Wasabi klingt: Wabi-Sabi.
Wabi ist ein ursprünglich negativ behaftetes Wort. Es beschreibt Empfindungen wie Einsamkeit, Traurigkeit, Verlassenheit oder ein Gefühl des Elends und Verlorenseins. Heutzutage kann man es anders interpretieren: Bescheidenheit oder auch die Freude in der Einsamkeit und Stille.
Sabi hingegen verkörpert das „Älterwerden“, wobei dies nicht nur auf die fortschreitenden Jahre eines lebenden Wesens bezogen ist. Es kann auch „Patina bekommen“ oder sinnbildlich „mit der Zeit reifen“ bedeuten. Sabi beschreibt allgemein den Prozess, bei dem sich etwas im Laufe der Zeit verändert. Ähnlich wie Wabi war auch Sabi ursprünglich eher negativ behaftet und bezeichnete oft eine starke Verschlechterung im Laufe der Zeit.
Im Grunde hat man hier zwei Begriffe miteinander kombiniert, die sich heute nur schwer so wirklich übersetzen lassen. Die Schönheit liegt gerade im Unvollkommenen, im Vergänglichen und vor allem in der Einfachheit. Wabi-Sabi verbindet das Einfache mit der Vergänglichkeit, um die wahre Schönheit in dieser Vergänglichkeit des Einfachen zu erkennen. Wir und alles um uns herum sind endlich und werden mit der Zeit vergehen – das sollten wir einfach so annehmen. Statt all unsere Kraft darauf zu verwenden, den Lauf der Zeit aufzuhalten, könnten wir ihn akzeptieren und unsere Energie auf das Wesentliche richten: das Leben im Hier und Jetzt.
Einfach schöne Fakten
Der Begriff Wabi-Sabi wurde formell im 16. Jahrhundert durch den japanischen Tee-Meister und Zen-Mönch Sen no Rikyū eingeführt. Doch bereits viel früher lassen sich erste einfache Züge von Wabi-Sabi finden, etwa in chinesischen „Wen-Jen Hua„-Malereien. Eine bedeutende Tradition in der chinesischen Malerei, die auch als Literatenmalerei bekannt ist. In der Malerei, die von chinesischen Gelehrten praktiziert wurde, ging es weniger um oberflächliche Schönheit oder die realitätsgetreue Darstellung. Die Werke zeichnen sich vielmehr durch eine subjektive und persönliche Auseinandersetzung mit der Realität aus und lassen oft absichtlich Raum für die Gedanken und Interpretationen des Betrachters.
Wabi-Sabi Philosophie
Die Philosophie hinter Wabi-Sabi umfasst mehrere zentrale Prinzipien: das „Annehmen der Unvollkommenheit“, die „Verbundenheit mit der Natur“, „Weniger ist mehr“ und das „Im Hier und Jetzt leben“.
Annehmen der Unvollkommenheit
Dieses Prinzip lädt dazu ein, das Leben – und vor allem dein eigenes – sowie all die Dinge um dich herum so anzunehmen, wie sie sind. Auch die unerwarteten Wendungen in deinem Leben kannst du nicht ändern, du kannst die Zeit nicht zurückdrehen, nichts Ungeschehen machen. Und auch wenn diese Wendungen nicht immer schön sind, sind sie dennoch Veränderungen. Vielleicht hat dich die eine oder andere Veränderung vor etwas noch Schlimmerem bewahrt oder dir sogar einen völlig neuen Weg gezeigt.
Suche nicht nach Perfektion, sondern nach Fehlern, nach Unregelmäßigkeiten, nach den Spuren der Zeit – sei es auf deiner Haut oder auf deinem Hab und Gut. Natürlich altern wir, auf unseren Schränken sammelt sich Staub, Farben verblassen. Die Dinge, die uns umgeben, sind vergänglich. Doch genau darin liegt ihr Wert. Schätze sie – oder besser noch: schätze sie gerade weil sie vergänglich sind und während sie vergehen.
Ein alter, vielleicht nicht mehr ansehnlicher Tisch ist dennoch ein Tisch, der seinen Zweck erfüllt. Du musst ihn nicht sofort ersetzen. Stattdessen kannst du ihn reparieren, optisch verschönern und den Wert schätzen, den er durch die Zeit und seine Nutzung erhalten hat.
Achte auf dich selbst und auf die Dinge, die dir gehören. Schätze den Wert jedes Gegenstandes, auch wenn er gebraucht ist. Vielleicht besitzt du keinen Porsche, sondern ein älteres, vielleicht klappriges Auto. Doch es erfüllt seinen Zweck und hat dich viele Jahre begleitet. Ihr habt gemeinsam viel erlebt. Es geht nicht darum, sich niemals wieder etwas Neues zu kaufen oder sich hin und wieder etwas zu gönnen. Aber wenn du es tust, dann mit Bedacht.
Nicht alles muss sofort ersetzt werden, nur weil es etwas Neueres oder vermeintlich Besseres gibt. Selbst wenn etwas kaputt geht, lässt es sich oft reparieren. In Japan gibt es beispielsweise eine spezielle Reparaturtechnik namens Kintsugi: Zerbrochene Keramik wird mit goldfarbenem Lack wieder zusammengefügt, wodurch sie eine vollkommen neue, einzigartige Schönheit erhält – im alten Glanz.
Verbundenheit mit der Natur
Die Natur gibt uns „natürliche Schönheit“ bereits vor. Dieses Prinzip endet nicht beim Aussehen von uns Menschen – auch wenn wir oft mit aller Kraft versuchen, jede kleinste Spur der Zeit an unserem Körper ungeschehen zu machen oder zumindest zu kaschieren. Vielleicht sollten du und ich einfach mal natürlich sein.
Organische Formen und natürliche, aus der Natur stammende Materialien stehen im Mittelpunkt von Wabi-Sabi. Das zeigt sich in Raumkonzepten, in der Kunst oder in schlichter Dekoration. Dazu gehören auch Zen-Gärten oder Teezeremonien, die ebenfalls Elemente von Wabi-Sabi enthalten. Sie nutzen natürliche Materialien, schaffen Harmonie und lenken nicht ab. Alles ist aufeinander abgestimmt.
Heute ist unser Alltag von Beton, Stahl, Glas und hochverarbeiteten Materialien geprägt. Doch Wabi-Sabi erinnert uns daran, uns mit Holz, Pflanzen und anderen Gaben der Natur zu umgeben – Dingen, die uns ein Gefühl von Wärme und Authentizität schenken.
Weniger ist mehr
Meine Umschreibung „Weniger ist mehr“ ist nicht wörtlich zu verstehen und umfasst das Prinzip nur ansatzweise. Es geht vielmehr um Reduktion und Einfachheit. Der Kern dieses Gedankens liegt darin, sich selbst und das eigene Leben auf das Wesentliche zu beschränken – auf das, was dir persönlich wirklich wichtig ist.
Wir umgeben uns oft mit unzähligen materiellen Dingen und füllen jede Ecke unserer Wohnung. Doch genau das kann unseren Geist belasten. Der ständige Überfluss macht es schwer, klar zu denken, und unsere Gedanken sind unentwegt in Bewegung, ohne zur Ruhe kommen zu können.
Vielleicht schwirrt dir jetzt der Gedanke im Kopf: „Ich kann mich doch nicht von allem trennen.“ Das stimmt – du musst dich nicht von allem verabschieden, aber du könntest. Minimalismus und Einfachheit stehen im Vordergrund. Sie helfen dir, Raum zu schaffen – nicht nur in deinem Zuhause, sondern auch in deinem Geist.
Im Hier und Jetzt leben
Magst du den Regen? Das beruhigende Prasseln der Tropfen, die in eine mit Wasser gefüllte Schale fallen? Träumst du gerne in einem warmen Sonnenstrahl vor dich hin? Darum geht es! Einfach den Moment genießen – genau diesen Moment, jetzt.
Lass dich nicht von all den Technologien ablenken, die unser Leben in einem rasenden Tempo durchziehen. Nimm dir die Zeit, wieder bei dir selbst anzukommen. Sind wir mal ehrlich: Ein Stück weit haben wir es alle verlernt, im Hier und Jetzt zu sein – wirklich bewusst zu sein. Selten gönnen wir uns eine Auszeit, noch seltener einen Urlaub, und selbst dann füllen wir die Tage mit endlosen Aktivitäten. Dabei könnten wir uns jeden Tag ein paar Minuten Zeit für uns selbst nehmen. Einfach mal entspannen.
Konzentriere dich auf dich selbst, auf das Jetzt. Höre in dich hinein: Was willst du wirklich? Wovon träumst du? Was ist dir wichtig?
Noch bedeutsamer – und doch so banal – ist dies: Schätze jeden Moment.
Ja, es gibt schlechte Tage. Tage, an denen schon morgens und auf der Arbeit alles schief läuft und du dir denkst: „Heute ist zum Kotzen.“ Das kennen wir alle. Aber beim nächsten Mal, versuche es anders zu sehen: Vielleicht war dieser Tag keiner, an den du dich für immer erinnern wirst. Aber es war ein Tag in deinem Leben. Du hast einen Job und ein Zuhause – und ja, vielleicht ist dein Job nicht der perfekte, aber vermutlich auch nicht der schlimmste. Im großen Ganzen bist du wahrscheinlich zufrieden mit dem, was du hast und was du bereits erreicht hast.Wir Menschen verlieren oft den Blick für das, was wir bereits erreicht haben, für all das, was wir besitzen, und dafür, wie gut es uns eigentlich geht – weil es für uns zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Doch für viele andere Menschen ist genau dieses, unser „Normal“ ein unerreichter Traum. Konzentriere dich auf die kleinen, schönen Momente des Tages!
Nimm dich selbst an und lerne, das zu schätzen, was du hast. Strebe nicht ausschließlich nach dem, was dir fehlt, oder nach dem, was heute noch nicht ist – was jetzt noch nicht ist.
Genieße stattdessen abends deinen Kaffee aus deiner Lieblingstasse. Freu dich darüber, dass du genau das tun kannst, weil du diesen schlechten Tag überstanden hast. Du hast weitergemacht und dir jetzt Zeit für dich selbst genommen. Und morgen? Morgen ist ein neuer Tag.
Entschleunigung steht bei diesem Prinzip im Mittelpunkt – einfach bei dir selbst ankommen.
Wabi-Sabi Lebenseinstellung
Stark – wenn du bis hierhin alles gelesen hast.
Vielleicht hat dich der Wabi-Sabi-Lebensstil, diese etwas andere Sicht auf Schönheit und der Sinn für das Einfache, schon in seinen Bann gezogen? Natürlich musst du morgen nicht alles wegwerfen und minimalistisch auf einer Bambusmatte schlafen. Es geht nicht darum, dein Leben radikal zu ändern.
Klar kannst du dir hin und wieder etwas Schönes kaufen, auch etwas Besseres, obwohl du etwas Ähnliches bereits besitzt. Aber vielleicht überlegst du beim nächsten Mal, ob der alte Gegenstand nicht auch noch seinen Zweck erfüllt. Muss er wirklich weggeschmissen werden? Oder könnte er verschenkt oder anderweitig verwendet werden?
Versuche, die unaufhaltbare Vergänglichkeit des Lebens zu akzeptieren. Ja, wir werden älter – jeden Moment. Wir bekommen Falten und all die anderen sichtbaren Zeichen des Älterwerdens. Aber ist das nicht wunderbar? Wir verändern uns. Früher konnten wir es gar nicht erwarten, „endlich alt“ zu sein, um die aufregenden Dinge des Erwachsenenlebens zu erleben. Jetzt können wir uns freuen, mit jedem Moment älter, reifer und weiser zu werden.
Und wenn wir schon dabei sind, können wir ganz in Ruhe für uns nachdenken: Ist das, was wir besitzen, wirklich das, was wir besitzen wollen und sind wir, wirklich der Mensch, der wir sein wollen?
- Bist du jeden Tag der Mensch, der du sein möchtest, oder trägst du eine Maske?
- Hast du ein großes Auto, weil die Gesellschaft dir vorlebt, dass nur jemand mit einem „geilen Auto“ es weit gebracht hat?
- Brauchst du eine Vierzimmerwohnung, obwohl du meistens in nur einem Raum lebst – oft sogar nur in derselben Ecke? Und ist diese „Ecke“ wenigstens so, dass sie dich entspannt und dir Raum für deine Gedanken gibt?
- Brauchst du wirklich immer das Neueste und Beste, oder passt das, was du gerade hast, eigentlich ganz gut zu dir?
Du merkst schon, worauf ich hinaus möchte. Und ich könnte ewig so weitermachen.
Hol ein bisschen Wabi-Sabi in dein Leben!
Du bist gut so, wie du bist.
Das tat gut, ich habe Inspirationen bekommen und wirklich mal ein paar Minuten in mein Innerstes geschaut. Du hast Recht, in allen Punkten. Eine neue Betrachtungsweise täte uns allen ganz gut. Schmeißen wir doch die Wegwerfgesellschaft weg. Das ist es, was meiner Meinung nach Japan so faszinierend macht, obschon ich noch nie dort war, aber dort wird alles gepflegt, sauber gehalten, es herrscht RUHE, jeder nimmt Rücksicht auf denn Nächsten, etwas, das ist unserer westlichen Kultur komplett verschwunden ist. Hier wird nicht gelächelt, hier denkt jeder nur; nach mir die Sintflut. Jeder schmeißt seinen Mist überall hin, ist laut, brüllt ins Handy, ganz egal ob in einer Arztpraxis oder im Lebensmittelgeschäft, jeder rempelt jeden an und es wird unkontrolliert gekauft, gekauft, gekauft. Vermutlich alles Frustkäufe oder Imagedarstellungsgehabe. Wabi -Sabi, das brauchen wir.