Japans dunkle Seite
Japans dunkle Seite

Japans dunkle Seite

Lesedauer 8 Minuten

Heute nehmen wir die rote Japanbrille einmal ab und schauen uns an, was nicht in das perfekte Bild Japans passt und oft einfach übersehen wird – von Touristen, Einheimischen, Behörden und auch von allen Japan-Enthusiasten wie mir. Doch heute blicken wir der Realität einmal ein bisschen ins Gesicht.

Es ist ebenso ein Teil Japans wie die schönen Seiten, und selbstverständlich ist Japan keine absolut perfekte Welt – gleichwohl es sehr nah dran ist. All diese Themen waren mir auch vorher schon bekannt, sie verweilten jedoch irgendwo in einer der hinteren Ecken meines Gehirns. Doch ich habe mir vorgenommen, bewusst darauf zu achten, während ich hier lebe.

Als Japan-Liebhaber fühlt es sich seltsam an, diesen Beitrag zu schreiben – das von mir stets in den Himmel gelobte Land nun ein wenig zu bashen 💥 🥺 Doch die Wirklichkeit besteht eben nicht nur aus Kondensmilch-Eis von 7-Eleven und traumhaften Aussichtsplattformen auf einem der unzähligen Wolkenkratzer.

Selbstmorde

Es ist ein offenes Geheimnis – und doch schockieren mich die Zahlen jedes Mal aufs Neue. Einzelne Schicksale gehen mir manchmal besonders nah und lassen mich oft monatelang nicht los. Erst heute hat Sumikai eine neue Statistik veröffentlicht – leider eine erschütternde, traurige Statistik und zugleich ein neuer, verdammt dunkler Rekord. Die Selbstmordrate unter Kindern erreichte im Jahr 2024 einen absoluten Höchststand: 572 Kinder und Jugendliche sahen keinen anderen Ausweg mehr. Eine Zahl, die endgültig ist, nicht mehr umkehrbar. Und die Gesamtzahl aller Suizide in Japan liegt leider noch weit darüber.

Der immense Leistungsdruck, das allgegenwärtige Mobbing in den Schulen, steigende Lebenshaltungskosten, während Lohnerhöhungen ausbleiben oder nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sind, sowie der tief verankerte gesellschaftliche Druck – all das sind nur einige der Gründe für diese Tragödien. Dieses Thema und einige Missstände hier in Japan, beschäftigen mich leider schon lange. Derzeit schreibe ich ein Buch, das kritisch einige Selbstmorde hinterfragt, sich mit den gesellschaftlichen Strukturen auseinandersetzt und hinter die Fassade des scheinbar perfekten Japan blickt. Besonders ein Selbstmord in Yokohama, der noch nicht allzu lange zurückliegt, hat mich tief getroffen – und lässt mich bis heute nicht los.

Alles hier ist sauber! Nein!

Es steht außer Frage, dass Japan eines der saubersten und hygienischsten Länder der Welt ist. Doch auch hier leben keine perfekten Engel, sondern Menschen – genau wie du und ich.

Gerade in den Abendstunden, besonders nachts, wird in Japan nahezu täglich gefeiert, getrunken und geraucht. Bei nächtlichen Spaziergängen entdecke ich immer wieder Ecken, in denen dann Müll liegen bleibt: Plastiktüten von den verschiedenen Konbinis, die über die fast leeren Straßen wehen, oder leere Flaschen und Dosen – vor allem Bierdosen –, die sich auffällig oft an Rauchspots sammeln. Auch Graffiti, das tagsüber im Stadtbild eher selten zu sehen ist, existiert hier. Man findet es an Brücken, Strommasten und ebenfalls wieder an den Rauchspots – dort gerne auf den Scheiben. Zwar verschwindet dieser „wilde Müll“ meist innerhalb weniger Stunden wie von Zauberhand, noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Asphalt berühren, doch es zeigt mir einfach das dieser Ort lebt – abseits aller Regeln und Normen. Auch beschmierte Scheiben werden oft über Nacht gereinigt. Dennoch zeigt es, dass nicht alles Gold ist, was glänzt – selbst in Japan.

Im Großen und Ganzen bleibt dies natürlich eine Ausnahme und nicht die Regel. Doch es gibt komplette Stadtteile wie Shibuya oder Kabukichō, in denen es manchmal fast so wirkt, als lägen sie nicht in Japan. Hier liegen die Straßen voller Müll, Menschen feiern bis in die frühen Morgenstunden, um dann aus den Bars und Diskotheken zu taumeln. Betrunkene, die regungslos auf dem Boden liegen, weil sie keinen Meter mehr weit kommen, sind in diesen Vierteln keine Seltenheit. Es erinnert an den Kiez in Hamburg – vielleicht sogar in einer noch extremeren Form.

Ein Thema, das in Japan kaum Beachtung findet und von Touristen – wenn sie es überhaupt wahrnehmen – oft nur mit einem respektlosen Foto festgehalten wird, sind die Obdachlosen. Obwohl die Städte alles daran setzen, so zu tun, als gäbe es sie nicht, sind sie natürlich da. Doch vielerorts werden sie von den Komunen regelrecht aus dem Stadtbild entfernt – unsichtbar gemacht.

Bleiben wir für einen Moment in Kabukichō – dem enthemmten Distrikt Tōkyōs. Zwischen all den feiernden Touristen und Einheimischen, die dieses Viertel für sein exzessives Nachtleben aufsuchen, gibt es eine Realität, die kaum jemand sehen will: Obdachlose Kinder – die sogenannten „Toyoko Kids“. Manche sind noch nicht einmal 17 Jahre alt. Sie leben hier, weil sie kein Zuhause haben oder aus verschiedensten Gründen nicht mehr nach Hause können oder vielmehr wollen.

Das muss man erst einmal verarbeiten: Kinder und Jugendliche, die eigentlich ein warmes und geschütztes Zuhause haben sollten, leben – manchmal aus freien Stücken, oft aber aus Verzweiflung – auf der Straße. Viele dieser Toyoko Kids schlafen nachts gemeinsam in einem kleinen Hotelzimmer oder in einem Internet-Café. Doch sie verwirken ihr Leben nicht einfach auf der Straße – sie sind kleine Internet-Stars, Influencer in sozialen Medien oder sogar Idols.

Die Gründe, warum sie nicht nach Hause können oder wollen, sind so unterschiedlich wie ihre Persönlichkeiten. Doch ein besonders erschreckender Grund, der sich seit der Corona-Pandemie drastisch verschärft hat, ist sexueller Missbrauch. Viele dieser Kinder und Jugendlichen haben während der Pandemie Missbrauch und/oder häusliche Gewalt erlebt. Sie haben Angst, nach Hause zu gehen – und so werden sie ein „Toyoko Kid“.

Das alles passiert mitten in einer wohlhabenden Präfektur, umgeben von riesigen Neonlichtern und bunter Leuchtreklame, Touristenboom und Nightlife. Womit sich einige dieser schutzlosen Seelen das Geld für ihr Überleben bis zum nächsten Tag verdienen müssen, kann sich wohl jeder denken – leider. Ja, all das existiert in Japan – wie in vielen anderen Ländern auch. Doch kaum irgendwo wird es so gekonnt kaschiert. Touristen werden durch bunte Werbeflächen, verlockendes Essen, atemberaubendes Nachtleben und Host-Clubs aus dieser Realität herausgezogen. Doch niemand sollte wegsehen!

Natürlich gibt es wohltätige Organisationen, die sich um diese Kinder kümmern. Es gibt auch Aufklärungskampagnen an Schulen, die den Betroffenen zeigen sollen, dass nicht alle Erwachsenen Unmenschen sind (ein anderes Wort fällt mir für solche Menschen nicht ein, die sich an Kindern, erst recht ihren eigenen Kindern vergehen – sorry!). Doch es reicht einfach nicht. Japan muss mehr tun. Punkt.

Und bitte, bitte – macht keine Fotos von diesen Kindern, selbst wenn ihr ihren „Dark Kawaii“-Look faszinierend findet. Sie sind keine Attraktion in Kabukichō. Sie fliehen vor einer grausamen – ihrer eigenen – Realität.

Eine Plastikflut

Zugegeben, ich war nie jemand, der sich besonders strikt an Mülltrennung gehalten hat. In Deutschland habe ich mir darüber selten viele Gedanken gemacht – eigentlich landete fast alles im Hausmüll. Große Plastikverpackungen schafften es vielleicht noch in die gelbe Tonne, und Pappe fand meistens ihren Weg in die blaue. Aber wenn ich ehrlich bin, war die Restmülltonne immer meine bevorzugte Wahl.

In Japan läuft das natürlich etwas anders – gezwungenermaßen. Das Mülltrennungssystem in Japan ist um einiges besser oder aber komplizierter. Vielleicht sogar beides gleichzeitig. Aber um das Abfallsystem soll es hier gar nicht gehen.

Willkommen in der Plastik-Hölle

Was mich aber noch viel mehr überrascht hat, ist nicht das ausgeklügelte Müllsystem, sondern die schiere Menge an Plastikmüll, die alleine ich hier produziere. Ich ertrinke regelrecht in einer Flut aus Plastik.

Alles – und ich meine wirklich alles – ist hier doppelt und dreifach in Plastik verpackt.

Ein einzelnes Ei? Fertig gepellt in Plastik eingeschweißt. Ein Onigiri…? Schwieriges Thema, mehrlagig in Plastik verpackt. Selbst ein einzelner Keks aus einer Packung… in Plastik.

Hier wird einfach alles verpackt. Und nicht nur Lebensmittel. Selbst Dinge, die in Deutschland in Papier oder gar nicht verpackt wären, kommen hier in Plastik daher. Servietten separat in Plastik verpackt. Löffel, Gabeln und Stäbchen aus den Konbinis? Natürlich hygienisch in Plastik verschweißt. Sogar ein einzelnes Feuchttuch, das man beim Essen dazu bekommt, hat seine eigene kleine Plastikverpackung.

Das mag aus hygienischen Gründen alles nachvollziehbar sein, aber die Menge an unnötigem Plastik ist einfach enorm. Es fühlt sich manchmal so an, als würde ich allein mit meinen Wocheneinkäufen einen ganzen Berg an Plastikmüll anhäufen. Und selbst wenn ich mir wirklich Mühe gebe, meinen Plastikverbrauch hier so gering wie möglich zu halten – ich habe keine Chance.

Jede Woche fülle ich mehrere Mülltüten nur mit Plastik. Da hilft es auch nichts, dass Japan über 80% davon recycelt. Die schiere Menge an Verpackungen bleibt einfach absurd.

Japan gehört zu den größten Plastikverbrauchern weltweit. Die Gründe dafür sind vielfältig. Hygiene spielt in Japan eine extrem große Rolle. Alles muss sauber und unberührt wirken und natürlich auch sein, daher wird vieles einzeln verpackt. Das Konsumverhalten ist ebenfalls für so manche Verpackung verantwortlich, denn viele Menschen kaufen oft kleine Portionen und Snacks für unterwegs, was die Menge an Verpackungsmüll zusätzlich erhöht. Bleibt noch die allgegenwärtige Ästhetik: Verpackungen müssen nicht nur praktisch, sondern auch schön sein – das gehört einfach zur japanischen Kultur.

Japan hat mittlerweile einige Schritte unternommen, um den Plastikverbrauch zu reduzieren. So sind etwa Plastiktüten in den meisten Geschäften nicht mehr kostenlos, und einige große Ketten experimentieren mit alternativen Verpackungen. Doch der Wandel ist langsam – sehr langsam – und Plastiktüten kosten gerade einmal 3 bis 7 Yen, also nicht einmal einen einzigen Euro-Cent.

4 Kommentare

  1. Rebecca

    Wichtige Themen, die oft übersehen werden. Besonders die hohe Selbstmordrate unter Jugendlichen ist erschreckend. Von den Toyoko-Kids hatte ich kürzlich auch erst erfahren. So sehr ich Japan auch liebe, es ist wichtig, auch diese Aspekte zu kennen, um ein vollständiges Bild von Japan zu erhalten. Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Beitrag.

    Zum Verpackungsmüll:
    Einiges ist wirklich „nervig“ und wahrscheinlich unnötig. Aber das Plastik um die Onigiri gehört definitiv nicht dazu. Ohne diese ausgeklügelte Technik, würde das Noriblatt pappig und zäh werden. Ich hätte keine Idee, was man dafür als Alternative nehmen könnte.

    Die separat in Plastik verpackten Feuchttücher finde ich persönlich super. Eine Dienstleistung, die es hier in Deutschland so gar nicht gibt und mich in Japan sehr glücklich gemacht hat ^^ Außer Brillenputztücher hätte ich hier keinen deutschen Vergleich, die sind auch alle separat verpackt. Nicht in Plastik, aber in irgendwelche beschichteten Tütchen.

    Den Hygiene Aspekt kann ich vollkommen nachvollziehen. Hier in Deutschland undenkbar, daher wird „To Go Besteck“ oft gar nicht angeboten (wobei uns das damals bei den bunten Pommesgabeln aus Plastik, die in einem Körbchen, in das jeder reingrabbeln konnte, auch nicht gestört hat :D). Inzwischen gibt es Holzbesteck *würg* und Papptrinkhalme. Für mich keine gleichwertige Alternative.

    1. Ja, du hast natürlich vollkommen recht mit dem Noriblatt – das würde sofort matschig werden. Ich habe aber mal aus Spaß einen Onigiri so ausgepackt, dass das Noriblatt nicht sofort drumherum war, quasi die Verpackung entfernt, ohne dass es sofort mit dem Reis in Kontakt kam. Ich bin der Meinung, dass man sich von diesem System, bei dem man die Lasche abreißt, links und rechts zieht und fertig ist, verabschieden könnte. Man könnte das Noriblatt einzeln verpacken und dazulegen. Dadurch ließe sich einiges an Verpackung sparen. Oft werden aber einfach zu viele und vor allem viel zu große Verpackung verwendet. In die Tüte, in der mein Besteck eingeschweißt ist, passt locker das Dreifache. Haha, guter Vergleich – die guten alten Pommesgabeln in der Schale, in die alle „reingegrabbelt“ haben. Das wäre wiederum hier undenkbar.

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